Seitenblicke ins Katholische.
Neue Erfahrungen mit der Kirche

Vortrag in der evangelischen Erlöserkirche Lüdenscheid am 13.6.2022
(gekürzte Fassung)


5.
Die Nullpunkterfahrung


Diese Erfahrung ist neu und überaus bedrängend. Missbrauch und Vertuschung – Kardinal Marx spricht vom „toten Punkt“ und Bischof Overbeck (Essen) vom Abgrund, in den wir schon geraten sind. Die kriminellen Einzeltaten sind nicht zu sehen nach dem Schema: „Schwarze Schafe“ hat es immer schon gegeben! Die Kriminalität ist „systemisch“ – begünstigt durch die kirchliche Struktur, durch die Machtverhältnisse, durch falsche Loyalitäten. Erschreckend, wie die Verantwortlichen – Bischöfe, Personaldezernenten – mehr an der „reinen Weste“ und dem guten Ruf der Kirche als an den Opfern interessiert waren. Ein erschreckender Mangel an Empathie für die Opfer ist sichtbar. Und auch wenn der Missbrauch ein breites gesellschaftliches Problem vieler Kreise ist – die Fallhöhe der Kirche ist enorm! Denn sie gab sich ja als Hüterin einer Moral, an der sie selber gescheitert ist. Neben der sexuellen Problematik wurde auch „geistliche Gewalt“ ausgeübt – innerer Druck z.B. in Orden und Gruppen. Wirkliche „Leitung“ fand da nicht statt, sondern „Be-Herrschung“.
Papst Franziskus spricht gern vom „Feldlazarett Kirche“, die die Leiden der Menschen zu lindern oder zu heilen versucht. Jetzt braucht die ganze Kirche erstmal selber ein Feldlazarett! Wer von der Glaubwürdigkeit lebt und wem die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen so abhandenkommt, der muss selber ins Lazarett, in eine klare Therapie und Reha.
Der Synodale Weg in Deutschland setzt da an – an den Macht- / Strukturfragen. Er konzentriert sich auf Partizipation, Rolle der Frau, Zölibat, Ämter und kirchliche Sexualmoral. In den aktuellen Umfragen zur Weltbischofssynode 2023 wird deutlich, dass auch in anderen Ländern, wie in Spanien, diese Probleme im Vordergrund stehen – zum Leidwesen vieler Bischöfe etwa in Polen und den USA, die sich daran vorbeidrücken wollen.

Ich habe auf dem Höhepunkt der Enthüllungen einen Text, einen „Klagepsalm über die Lage der Kirche in Deutschland“ geschrieben:

Ach, Herr ...
Das Loblied am Morgen
hängt zwischen den Zähnen fest
kann nicht heraus
denn das Herz klagt

Ach, Herr ...
Man sagt:
Unter jedem Dach ein Ach
Unter dem großen Dach
der Kirche ein großes Ach -
Klage und Anklage

Einst sangen wir Loblieder
Ein Haus voll Glorie schauet
weit über alle Land
und nun bleibt uns nur
Herr, erbarme dich

Vielleicht waren
die Loblieder von einst
zu vollmundig

Vielleicht haben wir
die Kirche zu sehr
auf den Sockel gestellt,
den Heiligen Vater in Rom
fast mit dir verwechselt -
Zu viel Oberhirten
und Exzellenzen
zu wenig Hirtendienst

zu viel Glanz und Gloria
zu viel Macht und Geld
zu viel Behörde -
ein geschlossenes System
mit eigener Logik,
weltfremd und
immer im Recht

Eine Kirche,
die um sich selber kreist,
der es um das
eigene Ansehen ging,
die so
eine Fassade aufbaute,
und die die Risse
in der Fassade
überpinselte

Ach, Herr… ...
Wir klagen,
sind erschüttert
über den Missbrauch
der Macht
und der Menschen,
über die kindlichen Opfer
und ihre
oft gebrochenen Seelen.
Kaltherzig
wurden sie behandelt,
wie Zahlen einer Statistik,
man glaubte ihnen nicht,
sie bekamen kein Gesicht.

Wir sind erschüttert
über das Verschweigen
und Vertuschen
und Hinwegsehen
und die
nicht wahrgenommene
Verantwortung - und für die
noch nicht mal halbe Wahrheit
selbst aus päpstlichem Munde

Das alles in der Kirche
dem Hort der Wahrheit
dem Ort deiner Liebe

Wir hören
die Frage Jesu an seine Jünger:
Wollt nicht auch ihr gehen?
Und wir hören die Frage an uns:
Was hält euch eigentlich noch?

Ach Herr,
die Kirche liegt am Boden,
wird ausgezählt
wie im Boxring.
Knock down, total.
Im Ranking des Vertrauens
steht sie ganz unten.

Aber jetzt – ganz unten,
fast am Nullpunkt -
könnte
das Entscheidende kommen.
Wie der Suchtkranke,
der herauswill aus der Sucht,
an den Nullpunkt muss ...
Der Umschwung ...

Die Wege zurück ins Alte
sind versperrt.
Jetzt ist die Stunde der Wahrheit
und der Einsicht.
Jetzt: die Bescheidenheit
und die Demut.
Eine gründliche Reinigung.
Mehr als üblicher Hausputz.
Der Verzicht auf den Glanz
und die bröckelnde Macht und
die Selbstbeweihräucherung.
Radikale Ehrlichkeit.
Akzeptanz und Liebe
auch zu denen, die Du, Gott,
anders geschaffen hast
und die sich jetzt
aus den Verstecken wagen.

In einem Wort gesagt: Es steht an
- Umkehr.
Zu Jesus.
Zu einer Re-Form der Gemeinde,
wie er, Jesus, sie gedacht hat.
Offen für alle.
Männer und Frauen gleich.

Ach Herr -
lieber Vater:
Schenke uns und
der ganzen Kirche,
dass wir diese Stunde 2022
nicht verjammern,
auch nicht verharmlosen,
nicht vertrödeln, nicht
business as usual machen.
Schenke uns und der ganzen Kirche,
dass wir das Gute bedenken,
das der Glaube
uns gegeben hat und gibt.
Dass wir in uns
das Bild Jesu Christi
leuchten lassen,
des Mitgehers.
Dass wir Skandale
als Alarmzeichen ernst nehmen,
aber nicht für das Ganze halten.

Herr,
die Kirche ist vorläufig – und sündig.
Du bist ewig – und heilig.
Lass uns besonnen sein
und wieder glaubwürdig werden.
Denn alles, was der Heilung dient,
ist da - muss erkannt, genutzt
und gelebt werden.

„ Wir gehen nicht unter, wir gehen auf -
In Dir.“
(Bischof Kamphaus, 90 Jahre alt)



6. Liste von Eigenschaften und Haltungen für die zukünftige Kirche – vermutet, oder erhofft