Seitenblicke ins Katholische.
Neue Erfahrungen mit der Kirche

Vortrag in der evangelischen Erlöserkirche Lüdenscheid am 13.6.2022
(gekürzte Fassung)


4.
Nächste Erfahrung: Wie kurz der Weg vom Frühling in den November und in den Winter sein kann.


Es gab ein Blühen und Ernten vieler Früchte. Aber insgesamt kam das Konzil zu spät. Die Welt hatte sich schon weitergedreht. Und die Kirche ging alsbald durch schwere Krisen, Schrumpfung und Abbruch standen neben den Aufbrüchen.
- Schrumpfung: weniger als 50% in Deutschland sind noch in der Kirche.
- Die Kirchen leeren sich – die Corona-Pandemie verstärkte diesen Prozess ungemein. (Symbol: Der Papst in den Kartagen 2021 ganz allein auf dem Petersplatz)
- Die Gottesdienstgemeinde ist zur Zeit vor allem die der „Kirchbesucher“, die ihre Messe wollen (besonders polnische u. a. Gläubige), während die Gemeindeaktiven – Typ „mündiger Laie“ – sich da eher zurückhalten und (noch) nicht wiederkommen.
- Überall große Leere: Klöster, Seminare, nur 1 Priesterweihe gab es jetzt im Bistum Essen.
- Kirchenschließungen, die Aufblähung von Pfarreien zu Riesengebilden – im ökumenischen Gleichschritt.
Kann man da von Unfruchtbarkeit sprechen, wenn, wie in Ehen, der Nachwuchs aus-bleibt? (Biblische Vorbilder – Abraham und Sara. Da kam doch noch ein Sohn. Prinzip Hoffnung!)
Jeder kennt diese Phänomene und leidet daran. So herrscht Novemberstimmung in einer „winterlichen Kirche“ (Karl Rahner).

Einige knappe Hintergründe dafür:

a.
Der veränderte Mensch im Westen. Die Jahreszahl 1968 dient als Chiffre der Veränderung. Eine neue Kultur entsteht: Ein großer Schub zur Individualisierung und Emanzipation. Selbstverwirklichung wird Leitwort. Die Autoritäten und Institutionen bröckeln und wackeln (und blähen sich dabei noch auf, um den Mangel zu verwalten, wie die Mitarbeiterzahlen im Generalvikariat belegen!)
Jeder ist sein eigener Herr. Der göttliche Herr verblasst. Freiheit wird zum Schlachtruf.
Alles wird kritisch hinterfragt.
Gespräch mit Eritreern. Wie, ihr Deutschen esst Schweinefleisch? Das ist doch in der Bibel verboten! – Ja, aber aus Hygienegründen, Schweinefleisch verdarb schnell. Im Zeitalter der Kühlschränke ist das kein Thema mehr – und nicht der Wille Gottes für immer. Zwei Welten stoßen da aufeinander, immer wieder in der Weltkirche, schon bis Polen. Wir leben in der Weltkirche in verschiedenen Jahrhunderten. Während ein Weihbischof in Essen als erster Bischof in der ganzen Welt an einer Segensfeier für queere Paare teilnimmt, ermuntert die Bischofskonferenz von Uganda die dortige Regierung, gay people ins Gefängnis zu stecken.
Wer bestimmt das Tempo der Reform? Müssen sich immer alle nach dem Langsamsten richten? Oder sind verschiedene Wege denkbar, je nach jeweiliger Kultur?

b.
Emanzipation von religiösen Bindungen – Entwöhnung
Glaube ist heute alles andere als selbstverständlich – ist nur noch eine (anstrengende) Option.
Ein kräftiges Bekennen findet noch statt, hat sich aber zum Teil in bestimmte Kreise zurückgezogen – Evangelikale, traditionsbewusste oder freikirchliche Gruppen, bei uns: Polen.
Die „Weitergabe“ des Glaubens in den Familien gelingt kaum noch – aber lässt sich auch Glaube weitergeben wie ein Paket?
Religiöses Grundwissen verdampft: Pfingsten? Da hat Jesus geheiratet.
Glaube kommt bei vielen nicht mehr vor im Alltagsleben – wird nicht mehr sichtbar, erlebbar.
Glaube für andere eine religiöse Sonder- und Extrawelt, mit der sie sehr wenig zu tun haben. Beispiel: Im Brautleuteseminar sollte von den Paaren ein Ehehaus gebaut werden – mit Hilfe von ca. 30 Kärtchen mit Werten und Haltungen, die für Ehe wichtig sind. Was sind Fundamentsteine, was fliegt in den Bauschutt? Der Karte „Glaube“ ging es sehr unterschiedlich. Einmal machte man daraus eine „Kapelle im Garten“ – eine fromme Ecke. Jedenfalls nicht „das Salz in der Suppe“.
Und dennoch:
Gern mache ich Besuche vor Hochzeiten, Taufen und selbst Beerdigungen. An den „Knotenpunkten“ des Lebens sind Menschen oft geöffnet und nachdenklich. Mit wem kann man über existentielle Grunderfahrungen sprechen?
Und was könnte von den Kirchen und dem Glauben her kommen angesichts der Nöte der Zeit, den Zukunftsängsten und gesellschaftlichen Problemen, der Pandemie, um die Egotrips, die Gleichgültigkeit und Oberflächlichkeit zu durchbrechen?
Ein Beispiel aus der Kunst: Der italienische Künstler Fontana hat in vielen Museen seine Werke hängen, die eigentlich nur eines zeigen: Tiefe Schnitte in die Leinwand mittels Rasiermesser. Was, das soll Kunst sein? Ja; es ist auch eine religiöse Symbolik! Religion möchte auch Schnitte in die Oberfläche des Lebens machen, um zu sehen, was dahinterliegt. Eines von Fontanas Werken heißt attesa – Erwartung, Advent.
Religiöse Anknüpfungspunkte gibt es heute zuhauf in der Kunst, im Film, in der Literatur, Lyrik, Musik, Songs etc. Kirche sollte das aufgreifen, in Beziehung setzen zur Sprache des Glaubens – und nicht nur fromme Sprüche und erwartbare Sprache wiederholen.

Die Soziologen waren früher ziemlich einer Meinung: Säkularisierung – Verweltlichung, keine Transzendenz mehr – führt zum völligen Absterben der Religion. Die gibt es dann nur noch in abgelegenen Gebirgstälern, unter Hinterwäldlern.
Aber zur allgemeinen Überraschung der Soziologe: so läuft das nicht.

Es gibt keinen ausgeprägten Atheismus. Eher eine frei flottierende Religiösität – mitunter mit abergläubischen und magischen Zügen. Fast immer abseits der Kirchen. Es gibt eine Suche nach „Spiritualität“ und Meditation und „dem, was mir guttut“.
Eine Frau, der ich von einem „Abend der Spiritualität“ in einem Kloster erzählte, fragte zurück: „Wie, gibt es in Kirchen auch Spiritualität?“
Überall in Möbelkaufhäusern und Buchhandlungen können Sie Buddhafiguren kaufen. Fragen Sie da mal, ob es auch Kreuze gibt …

Das Christentum hält sich verschämt zurück. Eine Karikatur: Eine Familie erwartet seltene Gäste. Im Flur hängt ein Kreuz. Der Hausherr stellt eine große Blume davor. „Muss ja nicht gleich jeder sehen…“

Und dennoch:
Es gibt viele, die nachdenklich sind, vielleicht nicht bekenntnisstark, eher mit einem tastenden, suchenden, zweifelnden Glauben – mit vielen Fragezeichen. Sie haben Gott nicht aufgegeben. Aber sie wissen nicht so recht, wer er ist in seiner Verborgenheit, und die Auskünfte der Kirche sind ihnen oft zu „vollmundig“. Diese Leute gehören zu meinen „Lieblingen“. Auch mit denen rede ich gern. Und die gehören dazu, auch wenn sie unsere kirchlichen Veranstaltungen meiden. Es sind die, die in den noch offenen Kirchen manchmal still eine Kerze anzünden.

c.
Die Eigentore der Kirche – ihre sündhafte unheilige Seite, ihre Erstarrung, ihr Machtgehabe, ihre fehlende Empathie und Halbherzigkeit, ihr Bürokratismus, ihre Rechthaberei und Verweltlichung. Nun: ihre Überalterung, Erschöpfung, Enttäuschung, Überforderung und Ratlosigkeit – ihr Burnout.

5. Die Nullpunkterfahrung