Berührung

Predigt am 30.06.2024

Es ist Hochzeit. Kirchliche Trauung. Wie so oft: Braut und Bräutigam kennen keine Lieder aus dem Gotteslob. Die Verwandtschaft singt auch nicht mit, schlägt das Gotteslob nicht mal auf! Zwei Leute mit der Videokamera zoomen. Selbst beim Vaterunser: Stille im Bau. Gottlose Bande, denkt der Pfarrer bei sich - vielleicht, wahrscheinlich etwas voreilig.

Aber die Braut strahlt und ist glücklich. Der Bräutigam lächelt tapfer in dieser ungewohnten kirchlichen Umgebung. Beim Schlusslied versucht er sogar mitzusingen. Ja, für sie ist es eine wunderbare Hochzeit. Und obwohl diese Truppe seit Jahren und Jahrzehnten keine Kirche mehr von innen gesehen hat, berührt der Heiland das junge Paar. Man kann das jedenfalls nie ausschließen. Der Heiland umgeht die pastoralen Wunschträume und heilt die, die sein Gewand berühren. Und er berührt die Herzen, wo man es vielleicht gar nicht erwartet.

Liebe Schwestern und Brüder, wie ich diese Situation kenne! Und auch die Versuchung, innerlich bei einer solchen Hochzeit in der Kirche sozusagen „die Brocken hinzuschmeißen“! Aber der Heiland berührt die Brautleute, „man kann das jedenfalls nicht ausschließen“. Man kann das nicht ausschließen, wenn man das Evangelium von der blutflüssigen Frau gehört und gelesen hat. Da reicht eine sachte Berührung des Gewands, um geheilt zu werden. Die Frau muss vorher kein Examen machen, muss nicht das Glaubensbekenntnis aufsagen, muss keine Teilnahme an Glaubens-Kursen oder Einkehrtagen nachweisen. Nur: eine Berührung. Wechselseitig wahrscheinlich: Noch ehe die Frau das Gewand von Jesus anfasst, hat er sie schon in ihrem Inneren berührt. Hätte sie sich sonst an ihn herangedrängt? Hätte sie sonst ihre Hoffnung auf ihn gesetzt?

Die Frau wird schon seit zwölf Jahren – seit einer Ewigkeit – von ihrer Krankheit geplagt. Mit dem Blut rinnt auch das Leben aus ihr heraus, wird die Lebenskraft immer schwächer. Auch das Geld wird immer weniger. Die Ärzte lassen sich gut bezahlen – ohne Erfolg, ohne ihr wirklich helfen zu können. Das eigentlich sehr intime Leiden der Frau hatte damals sehr öffentliche Folgen: Blutungen sind tabu, die hygienischen Probleme machen kultisch unrein. Wer der Frau auch nur die Hand gegeben hat, muss sich erst kultisch reinigen, bevor er zum Gottesdienst gehen kann. Das Leiden schloss also aus der Gemeinschaft aus – fast so wie der Aussatz. Mit dieser Krankheit konnte man sich eigentlich nirgendwo mehr blicken lassen! Die Frau darf selber den Tempel und die Synagoge nicht mehr betreten, darf sich dem göttlichen Bereich nicht nähern. Man muss sich die Frau sehr isoliert vorstellen – wirklich auch in großer innerer seelischer Not! Das hygienisch-kultische Tabu wirkt wie ein Gefängnisgitter.

„Von hinten“, anonym, fast unsichtbar, im Gedränge der Menge, tastet sich die Kranke an Jesus heran, an sein Gewand, an ihn selbst. Wenn sie auch den Tempel nicht betreten darf – zu ihm, Jesus, dem „lebendigen Tempel Gottes“, sucht sie Zutritt. Wo der Tempel aus Steinen für sie versperrt ist, da ist der Tempel Gottes aus Fleisch und Blut, der Tempel des großen göttlichen Herzens, offen, zugänglich. Jesus wehrt sie nicht ab. Er gebraucht kein harsches Wort. Stattdessen spricht er den Friedensgruß: „Geh in Frieden!“ Und: „Dein Glaube hat dir geholfen. Du sollst von deinem Leiden geheilt sein!“

Wie das? Das war schon Glaube? Sich an Jesus herandrängen und sein Gewand anfassen? Die Theologen werden den Kopf darüber schütteln und vielleicht sagen: Das ist Magie! Das ist Wundersucht, Aberglauben! Für sie muss der Glaube sozusagen „chemisch rein“ sein. „Unrein“ ist ein Horror für sie, damals wie heute. Glaube – das sind für sie die großen Worte: totales Vertrauen in Gott, Nachfolge Jesu, Aufbruch, Bekenntnis, Lehre, Dogma, kirchliches Leben. Möglichst alles in Hochform, den ganzen Tag lang. Wie bei Mönchen oder Nonnen vielleicht. Eine hochgelegte Messlatte, wie beim Hochsprung. Nur die Heiligen – oder ziemlich Heiligen – kommen vielleicht hinüber.

Die Frau hält es da anders. Die Berührung des Saums bleibt sehr nah an der Erde. Sie muss sich bücken. Das bleibt etwas für ganz normale Menschen „von der Straße“, für Leute wie das Brautpaar am Anfang und seine unfromme Verwandtschaft. Eine eher flüchtige Berührung Gottes, hier und da. Wie ein „Anklicken“ im Internet: gelegentlich sich einschalten, einloggen bei Gott. Hier und da ein Stoßgebet, eine selbstlose Tat, eine angezündete Kerze vor dem Marienbild. Immer wieder so etwas wie das Erhaschen des „göttlichen Saums“, der über den Boden streift. Wenigstens das. Vielleicht st es mehr, als wir glauben.

Jesus lässt sich im Gedränge, im Stress und in den Bedrängnissen des Alltags berühren. Für manche leicht und flüchtig, für andere richtig folgenreich – heilsam und heilend. Er hat den Thomas ausgehalten, der die Wundmale berühren wollte und durfte. Er hat die Frau zugelassen, die nur an sein Gewand herankam. Zuvor berührt Er uns – warum sollte uns sonst sein „Gewand“, sein „Saum“ interessieren?