Schwierige Familienverhältnisse

Predigt am 09.06.2024

Heute begegnen uns im Evangelium die Angehörigen Jesu - aber wie…

Stellen wir uns die Situation vor: ein Riesenandrang um Jesus herum! Er heilt Menschen, er spricht den Armen gut zu, er bewegt etwas in den Leuten. Das geht so weit, dass er und die Jünger kaum Zeit zum Essen haben. So sehr wird er in Beschlag genommen! Und dann tauchen auf einmal seine Verwandten auf und sagen: „Den müssen wir da wegholen! Er ist von Sinnen!“ Auf gut deutsch: „Der tickt nicht mehr ganz richtig!“ Was mag da reingespielt haben: Neid, Unverständnis, Ärger: Dieser Jesus, Teil unseres Familienclans, passt nicht mehr zu uns, er schert aus: Er ist uns peinlich!

Jesus hatte das kommen sehen. Ein Prophet gilt nichts in seiner Heimat, bei seinen Leuten, hat er gesagt. Und er fügte hinzu: An mir werden sich die Geister scheiden. Die einen werden für mich und die anderen gegen mich sein – so wird ein Riss selbst durch die Familien gehen!
Das ist dann auch so gekommen. Da hat ein Ehemann kein Verständnis für seine gläubige Frau. Da fallen dann Worte wie Spinnerei und „fanatisch“. Da kann es sein, dass die jüngere Generation abschätzig und spöttisch der älteren begegnet, die von diesem „religiösen Quatsch“ nicht lassen will. Da trifft ein junger Mensch auf einiges Unverständnis, wenn der Glaube ihm wichtig bleibt. Der Riss kann wirklich durch die eigene Familie gehen.

Bei Jesus war es kaum anders. Kurze Zeit später kommen die Brüder Jesu zu dem Haus, in dem Jesus sich gerade aufhält. „Brüder Jesu“ – eine ungewohnte Vorstellung! Die Heilige Familie war doch nur zu dritt! Aber damals in Israel war es so wie heute noch in Afrika: keine moderne Kleinfamilie, keine kleine „heile Welt“, sondern ein ganzer Clan mit 50 oder 100 Verwandten. Die Cousins und Cousinen gehörten auch dazu; sie wurden z.B. auch als Brüder und Schwestern angesprochen. Man passte aufeinander auf und kriegte alles mit, nichts blieb verborgen. Ein „Privatleben“ im heutigen Sinne gab es nicht. Keiner lebte für sich. Es zählte der Clan. Es zählte das Wort der Alten, der Väter und „Patriarchen“ – die hatten das Sagen. Eigene Wege, eigene Meinungen waren verpönt. Einzelgänger mit eigenständiger Persönlichkeit konnten sich da nur schwer entwickeln. Jesus war sicher ein solcher geistiger Einzelgänger – zum Leidwesen seiner Verwandten. Und die kommen nun. Maria ist auch dabei. Die Leute im Haus melden Jesus das Eintreffen seiner Familie: „Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und fragen nach Dir!“ Also: Die stehen „draußen“. Das ist nicht nur ein äußerliches Draußen stehen – draußen vor dem Haus. Das sind die Außenstehenden, die nicht verstehen, die sich auf Jesus nicht einlassen. Als Jesus von ihnen hört, da schaut er die fremden Leute an, die da im Haus um ihn herum sitzen und an seinen Lippen hängen. Und er macht eine Handbewegung auf diese Hörer hin: „Das sind meine Angehörigen! Die hören mir zu! Die gehören jetzt zu mir. Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder, Schwester – oder Mutter!“
Jesus deutet hier also eine neue Familie an. Es sind nicht mehr die Blutsverwandten, die ihn offensichtlich nicht verstehen. Es sind die „Geistesverwandten“, die mit Freude Jesus zuhören – die ein Ohr für ihn haben. Die sind seine neue, wenn man so sagen will, „Adoptionsfamilie“!

Und so entstehen bald durch den Glauben neue Beziehungen unter den Menschen. Maria und der Jünger Johannes stehen unter dem Kreuz Jesu, und Jesus hat Johannes im Blick und sagt zu Maria: „Siehe da, Dein Sohn!“ Und zu Johannes: „Siehe da, deine Mutter!“

Noch ein anderes Beispiel: Paulus kannte einen reichen Großgrundbesitzer namens Philemon. Dem war ein Sklave mit Namen Onesimus weggelaufen und hatte sich bei Paulus bekehrt. Nun schickt Paulus diesen getauften Sklaven zurück zu seinem Herrn. Eine riskante Sache: Entlaufene Sklaven mussten mit schwersten Strafen rechnen! Der Apostel schreibt dem reichen Christen Philemon: Nimm den Onesimus wieder auf – aber nicht wie einen Sklaven, sondern wie dein eigenes Kind! Er ist auch mir zum Sohn geworden. Er ist „dein Bruder in Christus“!
Da passierte sozusagen unter der Hand eine soziale Revolution. Der Sklave blieb zwar noch Sklave, und sein Herr blieb der Herr. Und trotzdem kamen sie auf einer anderen Ebene neu zusammen: in der „Familie Christi“, als Brüder und Schwestern. Das strahlte aus. Die Heiden sahen dabei zu und waren erstaunt: „Seht doch, wie sie einander lieben!“

So war es von Anfang an in der „neuen Familie Jesu“. Die Unterschiede zwischen den Menschen werden nicht aufgehoben, aber sie trennen Menschen nicht mehr voneinander. Als Schwestern und Brüder gingen sie miteinander um – und das inmitten einer Gesellschaft, die zwar viel von Integration redet, aber ihre Gegensätze und Spaltungen hochhält und vertieft. Eine zerrissene Welt – und eine Großfamilie aus Juden und Heiden, aus Schwarzen und Weißen, aus Jungen und Alten! Versammelt um das Wort Jesu: Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter!

Merken Sie: da fehlt einer! Einer, der sonst immer an erster Stelle steht. Der Vater. Der Herr im Hause. Dieser Platz ist in der „Familie Jesu“ nicht besetzt. Er bleibt leer. Er gebührt nur Gott! Kein Mensch darf diesen leeren Platz besetzen – auch kein Papst, kein Bischof, kein Priester. Sie, die Amtsträger, sollen Gott verkünden und auf ihn verweisen. Und dafür sorgen, dass niemand den Platz einnimmt, der für Gott reserviert ist. Niemand soll Gott spielen. Es reicht, Bruder und Schwester zu sein.