Fronleichnam 2024

Predigt am 30.05.2024

Der Dichter Rainer Maria Rilke lebte einige Zeit in Paris. Auf seinen Wegen kam er immer wieder an einer alten Bettlerin vorbei, die auf dem Boden saß, ohne je aufzublicken, wenn man ihr etwas gab. In ihre ausgestreckte Hand legte Rilke nie etwas hinein. Eine französische Freundin sprach ihn darauf an, und der Dichter antwortete: „Wir müssen ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand!“
Wenige Tage später brachte Rilke eine eben aufgeblühte weiße Rose mit, gab sie der Bettlerin in die Hand und wollte weitergehen. Da geschah das Unerwartete: Die Bettlerin schaute auf, sah den Geber an, stand mühsam auf, küsste die Hand des Dichters und ging mit der Rose davon.
Eine Woche lang blieb die Alte verschwunden. Dann saß sie plötzlich wieder an ihrem gewohnten Platz, teilnahmslos und stumm wie sonst. „Aber wovon hat sie denn in all den Tagen gelebt?“, fragte Rilkes Begleiterin. Er antwortete: „Von einer Rose!“

Es ist nicht bekannt, dass Jesus in seinem Leben Rosen verteilt hat. Von ihm weiß man: Er hat Brot gebrochen und verteilt. Aber ich glaube, dass ihm die Geschichte von Rilke gefallen hätte, dass er sagen würde: Ja, das ist „in meinem Sinn“ – und dass er die Sätze des Dichters sofort unterschreiben würde: Wir müssen ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand – und: Sie lebte in all den Tagen von einer Rose!

Wovon lebt der Mensch?
Stellen wir uns vor, wir kämen in ein Land, wo es an allem fehlt. Vielleicht in Afrika, etwa in der Sahelzone. Oder in Gaza. Oder in ein großes Flüchtlingscamp. Wir würden uns, wenn wir könnten, wohl um das Lebensnotwendige, um das Nötige kümmern: Babykost, sauberes Trinkwasser, Brot oder Reis, Decken gegen die Kälte nachts. Unser Ziel: Keiner soll verhungern. Keiner soll verdursten. Keiner soll erfrieren…

Wovon lebt der Mensch?
Ein Missionar erzählt: Er kam nach Peru. Er sollte dort eine Gemeinde aufbauen, in den wüstenähnlichen Armenvierteln um die Hauptstadt Lima herum. Es gab da wenig, woran er anknüpfen konnte. Der Priester setzte sich mit den Leuten zusammen und fragte sie: Was braucht ihr? Die Leute dachten nach, und die meisten sagten: Eine Kirche! Der Missionar fiel aus allen Wolken, er hatte als Antwort erwartet: Eine Wasserleitung, oder: eine Suppenküche für die ganz Mittellosen – stattdessen: Eine Kirche? „Ja, wieso das denn: eine Kirche? Es gibt bei euch jetzt doch Dringenderes!“, sagt er und denkt an die Kirchenschließungen in seinem Heimatland. „Nein,“ entgegnete ihm eine alte Frau, „Wir sollten eine Kirche bauen. In ihr spüren wir, dass wir Menschen sind. In ihr spüren wir unsere Würde!“

Wovon lebt der Mensch?
Jesus verteilte Brot. Wir Christen sagen, gerade auf Fronleichnam: Im Brot gab er sich selbst. Das Brot ist sein Markenzeichen. Im Vaterunser lehrte er uns beten: Unser tägliches Brot gib uns heute! Gib uns, was wir zum Leben brauchen. Gib uns das Lebensnotwendige. Das Nötige. Und noch ein bisschen mehr: Das Gespür für unsere Würde. Selbstbewusstsein. Ja – eine Rose.

Ich habe Urlaubstage, bin weithin allein in meiner Wohnung und frage mich ganz elementar und ganz persönlich: Wovon lebt der Mensch? Das Nötige ist da. Der Kühlschrank ist gut gefüllt. Essen und trinken ist nicht die Frage – sehr im Unterschied zu Milliarden von Menschen, deren ganze Sorge aufs Essen und Trinken zielt - und die weiter hungern und Durst haben.

Wovon lebt unsereins noch? Von den anderen. Von der Familie, von Freunden und Freundinnen. Von Aufgaben und Begegnungen, von Gesprächen und Gedanken. Von Gedanken und Impulsen, die Sinn stiften, die die Hoffnung verstärken in hoffnungsarmen Zeiten. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sagt Jesus, sondern vom Wort, das aus dem Munde Gottes kommt (Mt 4,4). Der Wohlstand und die Dinge, die wir kaufen und anhäufen, das alles sättigt nicht. Hinter schönen Hausfassaden wohnt nicht immer das Glück. Aber das Glück kann sich nähren am Wort. Am guten Wort Gottes, dem Evangelium, und an den guten Worten der Menschen, die uns vor der Einsamkeit bewahren, die uns ans Leben anschließen und uns Mut machen. Die uns unsere Würde spüren lassen. Es bedeutet eine große Würde, Mensch zu sein, geliebter Mensch. Kind Gottes zu sein. Von ihm gesehen zu werden. Überhaupt jemand zu sein in dieser anonymen, technisch fast perfekten, aber menschlich sehr verarmenden Welt.
All das ist wie ein riesiger Rosenstrauß, den wir immer wieder wie ein Geschenk bekommen. Und von dem wir leben können.

Manche Leute, die einen Blumenstrauß bekommen, wehren in gespielter Bescheidenheit ab: „Aber das war doch nicht nötig!“ Doch – es ist absolut nötig. Nicht zum Überleben, aber zum Leben! Alle Zeichen von Glaube, Hoffnung und Liebe sollten wir unter die lebensnotwendigen Gaben zählen. Ohne sie ist das Leben schwarzgrau.

Eine Gabe habe ich noch vergessen: Wein! Brot und Wein. Beides zusammen sind die eucharistischen Gaben. Wohlgemerkt: nicht Wasser und Brot! Wasser und Brot gab es früher in Gefängnissen und Strafanstalten. Da kommt keine Freude auf! Man kann damit überleben, aber mehr auch nicht. Aber der Wein macht das Leben erst zum Fest. Bei der Hochzeit von Kana hat Jesus das Fest nicht platzen lassen, sondern für Wein in großen Mengen gesorgt – sechs große Krüge, 600 Liter. Der Wein der Freude und die Rose als vielleicht schönste Blüte der Schöpfung umgeben das Brot: Sie zeigen, wie schön das Leben ist, das Gott uns zugedacht hat.