Heiliger Ort. Nicht Markthalle

Predigt am 03.03.20243

Der Schriftsteller Manfred Bieler hat in seinem Kinderbuch „Mein kleines Evangelium“ die Stelle von der Tempelaustreibung sehr schön nachgedichtet:

Hundert Händler, Spekulanten,
Geldverleiher, Fabrikanten,
Höker, Trödler, Lieferanten
stehn mit ihrem Kram und Krempel
zu Jerusalem im Tempel.
Sie
makeln und kakeln,
prachern und schachern,
bestellen und prellen,
bezahlen und prahlen,
plauschen und tauschen,
ratschen und tratschen,
lügen und wiegen,
bamschen und ramschen,
blechen und zechen –

nur beten tun sie nicht!

Geht Jesus nun zum Amtsgericht,
die Tempelschänder zu verklagen?
Nein, er packt sie selbst beim Kragen
und haut sie mit ihrem Krempel
in hohem Bogen aus dem Tempel!
Rein ist nun das Haus, und seht:
Platz ist wieder fürs Gebet!


Können wir uns Jesus so wütend vorstellen? Ihn, der sonst so gewaltlos ist und die Friedfertigkeit und Sanftmut in Person? Hier explodiert er, verliert die Fassung, wird handgreiflich vor lauter Zorn! Auch Gott wird ja dieser Zorn zugeschrieben: Der „liebe Gott“ im Alten Testament kann vor Zorn außer sich sein und etwa eine Sintflut in Gang setzen – warum? Weil er die Ungerechtigkeit und Bosheit der Menschen nicht erträgt. Weil ein Hitler oder ein Putin wirklich unerträglich sind. Ich kann diesen Zorn gut verstehen. Liebe heißt nicht „weiche Welle“ und alles gutheißen!

Zurück zu Jesus. Es gibt einen wunderbaren Film über ihn, aber der spielt nicht vor 2000 Jahren, sondern in der heutigen Zeit, in Montreal in Kanada. So heißt der Film auch: „Jesus in Montreal“. Da in Montreal werden wie in Oberammergau Passions-spiele abgehalten, und der junge Jesusdarsteller, der nicht gerade ein Kirchgänger ist, kniet sich richtig in seine Rolle hinein. In seinem Denken und Fühlen wird er immer mehr zu Jesus. Zum Beispiel in dieser Szene: Im Filmstudio soll sich bei einem Casting eine junge Frau, die eine Filmrolle möchte, fast ganz ausziehen. Gegen ihren Willen! Der Jesusdarsteller kommt gerade vorbei, sieht das und schmeißt vor Empörung einige Scheinwerfer und Kameras um. Wie Jesus damals im Tempel, der die Tische der Händler umkippt.

Der Jesus von Jerusalem und der Jesus von Montreal erleben beide eine innere Verletzung: Jemand oder etwas ist „heilig“ für sie, wird aber nicht als heilig behandelt, sondern eher missbraucht. Der junge Kanadier erlebt mit, wie eine Frau gedankenlos bloßgestellt wird, pornografisch ausgenutzt wird, nicht wie eine Person, sondern wie eine Ware behandelt wird, in ihrer Scham verletzt wird. Der Leib hat etwas Heiliges an sich, sagt die Bibel, und spricht sogar vom „Tempel des Leibes“, der unverfügbar ist und nicht zur billigen Verfügung steht wie ein Ding. Ohne Respekt geht da gar nichts, und die aktuelle „Me-too“ Bewegung erinnert zu Recht daran.

Der Jesus von Jerusalem dagegen empfindet die Heiligkeit des Tempels als schwer gestört. Eine Markthalle ist er geworden, eine Räuberhöhle! Die Jünger erinnerten sich an das Psalmwort: Der Eifer für dein Haus wird mich verzehren! Die Geschäftemacherei im Tempel ist Jesus zuwider. Er hält es mit den Propheten, die lange vor ihm schon mit dem Tempelkult hart ins Gericht gingen. „Barmherzigkeit will ich, nicht Brandopfer“, sagt Jahwe bei Jesaja. Er will nicht das Geld, er will das Herz! So billig – mit dem Geld für eine Opfergabe – kommen wir nicht davon! Religion ist gratis, trotz Kirchensteuer und Klingelbeutel. Gratis, umsonst, denn Gnade ist ihr Kern.
Insgesamt scheint Jesus über den Tempel anders zu denken als seine Zeitgenossen. Die Frage ist: Wo wohnt Gott eigentlich? Lässt er sich verorten, lokalisieren? Hat er sozusagen eine Adresse? Im Allerheiligsten des Tempels, im Dom, in Jerusalem, im Vatikan? An den sogenannten „heiligen rten“? Nein, würde Jesus sagen, er lässt sich überhaupt nicht einschränken, nicht domestizieren. Er wohnt auch im Herzen des einfachsten Menschen. Gott wohnt da, wo man ihn einlässt. Und Paulus wird später schreiben, dass der Tempel, dass die Kirche „ein Haus aus lebendigen Steinen“ ist.

Ich nehme aus diesem Evangelium heute mit, dass Zorn auch ein „heiliges Gefühl“ sein kann. Heiliger Zorn! Als ich das schrieb, wurde Alexei Nawalny in Moskau beerdigt. Er war eine sehr laute kritische Stimme gegen die Unterdrückung in Russland. Freiwillig ist er in sein Land zurückgekehrt, wohl wissend, dass es ihm dort an den Kragen ging. Die Tausende Menschen, die bei der Beerdigung dabei waren und vermutlich alle fotografiert wurden, teilen mit großem Mut diesen „heiligen Zorn“. Er richtet sich dagegen, dass der Mensch Opfer des Menschen wird, dass das Leben in seiner Heiligkeit und Würde dauernd verletzt und heruntergemacht wird. Es ist ein Zeichen der Hoffnung, dass auch in unserem Land so viele Menschen für die Menschenwürde auf die Straße gehen und protestieren gegen Fremdenfeindlichkeit oder Antisemitismus. Heiliger „heißer“ Zorn gegen Ungerechtigkeit und Gewalt kann unseren erkalteten Glauben wieder entfachen.