Liebe – eins und drei
Predigt am 29.10.2023
Du sollst Gott lieben, mit ganzem Herzen…
Du sollst deinen Nächsten lieben.
Wie dich selbst.
Die Liebe kommt mir wie ein Dreieck vor: drei Eckpunkte, drei Richtungen, drei He-ausforderungen.
Ausgangspunkt ist das eigene Ich. Die Selbstliebe. Wie stehe ich zu mir selber?
Da gibt es sehr unterschiedliche Antworten. Eine, die heute sehr verbreitet ist, pflegt und mästet das eigene Ich und versucht, es ständig als interessant darzustellen – so, als wenn man dauernd auf einer Bühne stände. Alles mögliche Private wird gepostet, den „followern“ soll nichts
entgehen. Man kreist um das eigene Ich, muss sich immer wieder beweisen, und das Dreieck schrumpft eigentlich auf einen Punkt – aufs Ego. Eine etwas krankhafte Selbstliebe, die nur sich selber sieht und dabei alle Selbstzweifel überlagert oder verdrängt.
Als anderes Extrem sehe ich Menschen, die nicht im Frieden mit sich selber leben können, die sich selber nicht leiden und nicht annehmen können. Vielleicht bringen sie aus der Kindheit die Erfahrung mit, unerwünscht und ungeliebt zu sein. Ihre Selbstliebe ist verdeckt von der Angst, nicht
viel wert zu sein; die Schwächen und Mängel stehen für sie selber im Vordergrund.
Ich möchte beiden Gruppen und allen Leuten und mir selber eine Selbstliebe wünschen, die von Vertrauen, Demut und Mut geprägt wird: dem Vertrauen, dass unser Leben bejaht ist, dass die Liebe die Grundkraft des Lebens ist. Wir sagen dazu „Gott“. Diese Liebe geht all unseren bescheidenen
Versuchen der Liebe vorauf. Unsere Liebe ist wie eine Antwort, wie ein Echo darauf. Die Welt ist kein kalter leerer Raum des Alleinseins, da ist seit der Schöpfung eine Liebe wirksam, die uns zwar nicht immer erreicht und aufgeht. Zuerst einmal empfangen wir Liebe, vor allem durch die
Eltern. Dann erst sind wir selber fähig zur Liebe. Unser Ich entwickelt sich am Du. Ohne das Du kein Ich. Bei Trauungen lässt sich am besten darüber reden.
Dann folgt für die Selbstliebe die Demut. Das meint: das eigene Leben auch mit seinen Grenzen und Schwächen zu akzeptieren. Ich sage Ja zu meinem konkreten Leben. Ich erwarte keinen idealen vollkommenen Zustand. Ich bin nicht der Champion und muss es auch nicht sein. Ich steige aus den
Träumen und Idealisierungen herunter und komme in der Wirklichkeit an. Gott allein ist vollkommen. Ich muss es nicht sein.
Die Schwester der Demut ist der Mut. Mut, sich seiner Kräfte und Stärken zu bedienen und sie einzusetzen – auch für andere. Mut, manche Grenzen zu überschreiten. Mut, sich einem anderen anzuvertrauen. Mut zu lieben. Mut auch, Gott in sein Leben hineinzulassen. Gott zu lieben. Er hat uns
zuerst geliebt. Ich brauche wahrscheinlich ein ganzes Leben, um herauszufinden, wie ich ihn lieben kann – den unbekannten, unbegreiflichen, anwesenden und zugleich abwesenden Gott. Mein Zugang geht vor allem über seine Worte. Ich empfinde da so ähnlich wie ein Jude, wie der Beter im Alten
Testament: Herr, ich habe Freude an Deiner Weisung. Ich will versuchen, Deine Worte zu beherzigen. Denn sie sind Worte des Lebens, ja Quelle des Lebens und der Liebe. Und Quelle der Freude, eine solche Wegweisung zu haben.
Die Weisung Gottes klingt z.B. in der heutigen Lesung so: Einen Fremden sollst du nicht ausnützen, auch keine Witwe oder Waise. Nimmst du von einem Mitbürger den Mantel zum Pfand, dann sollst du ihn bis Sonnenuntergang zurückgeben – denn es ist seine einzige Decke, der Mantel, mit dem
er seinen bloßen Leib bedeckt. Worin soll er sonst schlafen? Wenn er zu mir schreit, höre ich es, denn ich habe Mitleid. (Ex 22,20-26)
Ich liebe Gott, indem ich beherzige und tue, was er sagt. Ich sehe Seinen Blick auf die Welt, dem nichts zu gering ist – Er sieht auch einen Armen, der unbedingt seinen Mantel braucht, um nachts nicht zu erfrieren. Ich sehe Seinen Blick auf die Welt, die im Großen wie im Kleinen voll ist
mit Unfrieden, mit Hass oder Gleichgültigkeit. Auf die Welt, die ihren Kompass verloren hat. Kann ich Seinen Blick teilen? Und dieses „Mitleid“ nachempfinden, das kein bloßes schwächelndes Gefühl ist, sondern zum Handeln drängt?
Wer sich selbst und Gott lieben kann, wird auch den Nächsten lieben. Er ist durch die Weisung Gottes geradezu darauf verwiesen. Und wer den Nächsten liebt, liebt dadurch auch Gott und tut seinen Willen. Gott und der Nächste stehen nicht in einem Konkurrenzverhältnis. Was ich Gott gebe,
nehme ich dem Nächsten nicht weg: Beten sollte nicht gegen Taten der Nächstenliebe ausgespielt werden. Man darf hoffen, dass Menschen, denen Glaube und Kirche fremd geworden sind, die aber das Gute tun, dem Herzen Gottes nicht fern sind.
Selbstliebe. Gottesliebe. Nächstenliebe – diese drei. Mit dem ganzen Dreieck zu leben – und nicht nur mit einem Punkt und einer Ecke – bringt Fülle und Freude und Sinn ins Leben. Und hilft uns, in schwierigen Zeiten zu bestehen.