Balkongedanken

Predigt am Dreifaltigkeitssonntag 04.06.2023


Vor einigen Jahren starb in Innsbruck Reinhold Stecher, 91 Jahre alt. Er war viele Jahre Bischof von Innsbruck – außerdem ein großer Bergsteiger, Maler und Erzähler. Mit 90 Jahren veröffentlichte er sein letztes Buch, „SPÄTLESE“ – Lebenserinnerungen – und schmückte es mit schönen Aquarellen aus der Natur. Sein letztes Kapitel in diesem Buch liegt dieser Predigt zugrunde: Balkongedanken:

Als alter Mann genieße ich meinen Balkon. Er ist für mich wie ein Aussichtspunkt in die Weite. Der Blick geht über den Blumenkasten, dann über Bäume und Häuser hin-aus, umfängt rund 80 Kilometer Tiroler Berge und sogar einen Gletscher mittendrin. Aber dieser Blick bleibt nie gleich. Ich sehe dieselbe Landschaft in Morgennebeln und Mondnächten, mit schweren Wolken, mit Gewittern und Regenbogen, in trübem Dunst und immer wieder in großer Klarheit unter blauem Himmel. Mein Balkon bietet Festspiele mit unerschöpflichem Programm! Er schenkt meiner kleiner gewordenen Welt noch immer einen weiten Horizont.

Es ist ein Vormittag mit viel Sonne. Vom Spielplatz herauf hört man Kinderlachen. Alles steht in Blüte. Ich bin vom Schreibtisch weg auf den Balkon geflohen, ziemlich unruhig, denn der Dreifaltigkeitssonntag naht, und ich tue mich mit der Predigt schwer. Dreifaltigkeit – was für ein Geheimnis! Wie dafür Worte finden? Alle Bilder und Begriffe werden blass davor. Aber kann das verwundern?
Ich sitze dann auf dem Balkon in der Sonne. Meine Augen müssen ihr ausweichen – trotz Sonnenbrille. Das Licht ist unerträglich blendend – so maßlos strahlend, dass man sich abwenden muss.

So unerträglich blendend wie die Sonne ist das Geheimnis, das wir „Gott“ nennen. Es ist verständlich, dass wir Menschen beim Nachsinnen über Gott oft in dürftigen Gedankengebäuden und kalten Philosophien landen – so fern, so unfassbar, so nie einholbar ist er uns. Aber das ist der Punkt: Der Gott der Bibel ist kein kaltes, abstraktes, gewaltiges Etwas. Er ist ein strahlender Gott, strahlend wie die Sonne über mir, die ihre Energie und ihr Licht in den Weltraum strahlt. So wie die Sonne ist der Gott der Bibel voll glühender Dynamik. Seine Feuerströme durchbrechen die Grenze von der Ewigkeit zur Zeit. Wie unglaublich ist das: Ich darf in dieses unerträgliche Licht hinein „Vater“ sagen. Nicht weil ich mir das anmaße, sondern weil er es gewünscht hat. Das darf ich sagen, auch wenn ich es sozusagen mit geschlossenen Augen aussprechen muss, weil meine Sinne, mein Verstand und meine Fantasie völlig versagen.

Und während ich so auf dem Balkon sitze, mit geschlossenen Augen wegen der Sonne, spüre ich deren Strahlen angenehm auf meiner Haut. Das gewaltige Gestirn berührt mich. Es ist so, als hätten ihre Strahlen auf ihrer Reise zu mir etwas von der vernichtenden Glut verloren. Die Sonne kommt bei mir – auf meiner Haut – in sanfter erträglicher Form an. Sie verbrennt mich nicht, sie streichelt eher meine Haut. Der strahlende Unendliche, der so behutsam, fast zärtlich bei uns ankommt, ist der Sohn Jesus Christus, Gottes ewiges Wort. Durch ihn werden wir berührbar für Gott. Der ferne Gott (sozusagen die Glut der Sonne) wird zum nahen Gott (die Wärme auf unserer Haut, in unserem Gesicht). Dass uns in Jesus Christus die unendliche Liebe so nahe rückt, das ist das wunderbare Geheimnis des Christentums.

In allem, was da auf meinem Balkon blüht und lebt, – und in allem rundherum, im Wind, der über den Kopf streicht, in den Blättern der Bäume, die im Wind atmen, auch im Kinderlachen auf dem Spielplatz genauso wie im Zug der Wolken über den Bergen – in allem wogt und wirkt die Energie der Sonne. Und das ist nun das dritte Bild: Der Unendliche wirkt in allem, so wie die Sonne als Energiequelle für die Schöpfung.

Der Geist des Herrn – der Heilige Geist – erfüllt den Erdkreis. Und er hat nur ein Ziel: das große Heil! Er umgreift mit seiner Kraft alles: das Universum, die Wunder der Evolution, die Geschichte, die Regungen des Gewissens, die zündenden Weisen der Liebe und den Widerstand gegen das Unmenschliche. So wie die Sonne im großen Klinikgebäude neben mir durch die Fenster in die Krankenzimmer scheint, so ist Gottes Geist in allem gegenwärtig, in den Abgründen des Lebens als eine erlösende Chance und in den Höhenflügen des Lebens als eine beschwingende Kraft. Er wird auch die Schatten überwinden, die für mich so schwer zu verstehen und zu tragen sind: Schuld und Ängste und Leid. Denn seitdem die Schatten des Leidens über den Ölberg und über Golgota zogen und von einem Ostermorgen weggefegt wurden, seitdem darf ich glauben, dass alle Schatten kürzer werden, je höher die Sonne steigt.

Die kurze Stunde auf dem Balkon – im Sonnenlicht – erinnert mich daran: Das Wirken des Geistes hat alles umgriffen, auch alle Dunkelheiten. Alles ist umströmt! Und so wie das glühende Gestirn der Sonne, sein sanfter Strahl und seine überall gegenwärtige Energie eins sind, so sind auch Vater, Sohn und Heiliger Geist eins. Gott ist ein dreifaltig strömendes Geheimnis der Liebe.

Und eine einzige Stunde auf dem Balkon kann uns davon eine Ahnung geben!