In alle Richtungen zweifeln: Thomas heute

Predigt am 16.04.2023


Heute ist wieder Thomas dran. Der „ungläubige Thomas“. Dieses Etikett des Unglaubens hängt an ihm bis heute.
Mal ganz ehrlich: Wären Sie – an Thomas‘ Stelle – nicht auch skeptisch und kritisch und zweiflerisch? Sie waren z.B. im Urlaub, und da kommen Ihre Kollegen und Freunde ganz euphorisch und tischen Ihnen eine unwahrscheinliche, eine unglaubliche Geschichte auf. Ihr toter Chef, den Sie alle sehr verehren, sei wieder unter den Lebenden. Mit den Narben seines Todes – er starb grausam – sei er den anderen begegnet, eine Woche nach der Beerdigung. Sie werden tief Luft holen, sich leicht an die Stirne tippen, etwas von Leichtgläubigkeit oder kollektiver Neurose murmeln und die anderen fragen, ob sie den Verstand verloren hätten. Ja, der Verstand. An den und an die Erfahrung will sich unser Thomas lieber halten, da ist man auf der sicheren Seite.

Aber was ist schon sicher? So vieles ist mit unserem Alltagsverstand nicht fassbar. Der Tod nicht und die „großen Fragen“ nicht und Gott erst recht nicht. Es gibt eine Ebene des Unsagbaren, des Nicht-Berechenbaren und des Geheimnisses. Der Verstand stockt da und weiß nicht weiter. Schon beim Thema „Liebe“ muss er passen. Da kann er noch so gescheit mit psychologischen Argumenten oder chemischen Reaktionen unserer Hormone kommen. Die Liebenden werden lächeln und den Verstand an sich abprallen lassen! Ein Geheimnis ist nicht erklärbar, man sollte es nicht auseinandernehmen wie eine Maschine, sondern: bewundern, bestaunen. Und ihm, wenn möglich, folgen.

Als der biblische Thomas dem auferstandenen Jesus begegnet, wird er das alles in wenigen Minuten lernen. Er fängt an wie ein Wissenschaftler, ein Mediziner oder Physiker, der Beweise sucht, der betasten und untersuchen will, der mit seiner Hand agiert: „Wenn ich meine Hand nicht in seine Wundmale und in seine (durchbohrte) Seite legen kann, glaube ich nicht.“
Jesus fühlt sich durch diese Zumutung nicht verletzt. Er lässt den Zweifel des Thomas zu. Es ist ja denkbar, dass man durch den Zweifel hindurch zu tieferen Einsichten kommt. Der Zweifel muss nicht in die Hölle führen, sondern kann auch eine Treppenstufe in den Himmel sein. Er ist ein Zwillingsbruder des Glaubens. Wie hier im Evangelium: Thomas reagiert nun nicht mehr mit der Hand, sondern mit dem Herzen. Er bekennt: „Mein Herr und mein Gott!“

Von Thomas erzählt die Überlieferung, dass er den Osterglauben bis nach Indien gebracht hat. In Südindien gibt es heute noch die Thomaschristen. Sie sagen: Der gläubige Thomas – nicht der ungläubige – ist der Stammvater unseres Glaubens.
Sein Zweifel war nur eine Stufe – eine notwendige Stufe – in seiner Entwicklung.

Menschen, die fragen, regen unsere Fragen an. Menschen, die suchen, bestärken uns in der Suche. Menschen, die zweifeln, bewahren uns vor einem allzu bequemen, allzu glatten und vorschnell antwortenden Glauben. Sie legen – wie Thomas – den Finger in die Wunden. Und die Wunden sind ja da: die Wunden im Leib Christi, die Wunden in der Kirche, die Wunden im eigenen Leben. Man muss sie wahrhaben und darf sie nicht verdrängen und vertuschen oder mit kleinen Pflastern zukleistern. Sie gehen nicht von alleine weg. Man muss sie behandeln – und behandeln und heilen lassen – durch Umkehr, durch neue Schritte, auch durch Gottes Heilkunst. Und den Zweiflern und Kritikern muss man dankbar sein für diesen Dienst: den Finger in die Wunden zu legen.

Ob umgekehrt auch Kritik und Zweifel erlaubt sind an der massiven Gottlosigkeit unserer Kultur? Ja, ich denke, wir Christen müssen als große Zweifler wirken – nicht dem Glauben gegenüber, der schon genug in der Schusslinie ist, sondern dem Zeitgeist gegenüber, der für den Glauben nur noch Unverständnis, Spott und Häme übrighat. Ein bayrischer Journalist, Tobias Haberl, hat das in einem großen Artikel in der SZ jetzt vor Ostern ungewohnt klar und deutlich beschrieben. Er lebt als Katholik in einem Milieu unter lauter Medienleuten und Menschen, (ich zitiere ab jetzt) „die mich bestaunen wie ein seltenes Tier im Zoo.
Die sich entweder gar nicht oder verächtlich über Religion äußern. Menschen, die Toleranz gegenüber Minderheiten fordern, aber meinen Glauben wie selbstverständlich verunglimpfen. Da hört die Toleranz auf! Menschen, die ständig Diversität fordern, aber verkennen, dass ein Gottesdienst um ein Vielfaches diverser besetzt ist als jede ihrer Partys, auf denen immer alle die gleichen Netflix-Serien schauen. Menschen, die an technischen Fortschritt und KI glauben, nur eben nicht an Gott. Ob sie ahnen, dass es mir genau andersherum geht? Dass mir fast alles, worauf sie zählen, hohl und fragwürdig erscheint, während ich von Gottes Liebe immer noch überzeugter bin? Wenn ich denen sage, dass uns modernen Menschen in unserer Haltlosigkeit so etwas wie ein göttlicher Trost guttäte, dann schauen sie mich so an, als hätte ich Kampfjets für Russland gefordert! Derselbe angewiderte Blick, wenn man erklärt, dass man am Sonntag um 11 Uhr nicht in dieses neue angesagte Cafe zum Frühstücken kommen kann, weil einem der Besuch der Messe wichtiger ist. Oder wenn ich die Stille empfehle, die Abwesenheit von Whatsapp-Nachrichten – wie sie die Stille meiden, weil dann Fragen auftauchen könnten, deren Antwort sie nicht googeln können. Es fehlt heute die Fantasie, sich so etwas wie eine göttliche Offenbarung wenigstens vorzustellen – oder Zusammenhänge, die nicht von dieser Welt sind. Sie schauen mich leer an, wenn ich sage: Ich fühlte mich eingebettet und gehalten, mein Leben hatte einen Sockel und ein Dach, Sinn und Rhythmus, alles hatte seine Zeit – die Freude, aber auch die Trauer. Und jetzt ist Katholischsein so anstrengend. Ständig soll man sich rechtfertigen oder schämen, weil in der Kirche so vieles schiefläuft – aber ich will mich nicht permanent vor der Twitter-Gemeinde, sondern am Jüngsten Tag vor meinem Schöpfer rechtfertigen, der auch das Verborgene sieht. Manchmal habe ich das Gefühl, als riefe ich von der einen Seite eines Grabens auf die andere, aber keiner hört mehr zu… und erlebe deutlich, dass unsere Fixierung auf Rationalität und Technologie eine schmerzliche Riesenlücke aufweist, weil Google jede Frage beantworten kann – nur nicht, wozu wir leben und was uns Halt gibt.