Vorsprung Tod, Vorsprung Leben

Predigt am 26.03.2023


Ich stehe oft an Gräbern. Das also ist unser letzter Ort, denke ich. Etwa einen Meter breit, zwei Meter lang, 1,80 Meter tief. Mehr brauchen wir nicht mehr. Unsere sterblichen Reste liegen da 20 bis 30 Jahre. Dann werden die Gräber eingeebnet – wie in dieser Woche bei meinen Eltern.

Was sagen wir Kindern auf die Frage, wo denn jetzt der tote Opa ist? Wir sagen „Im Himmel“ („In der Hölle“ sagt wohl keiner) oder „Bei Gott“ und deuten damit an, dass ein Grab unsere Toten nicht fassen und begrenzen kann. Dass wir uns alle mal „begraben lassen“ können – das ist nicht das letzte Wort über uns. Wir Menschen sind mehr als nur ein Grabinhalt. Wir sind mehr als Asche und vermodernde Knochen.

Ein Gedicht, das ich sehr mag, stammt von dem Schweizer Pfarrer Kurt Marti, der selber vor ein paar Jahren im Alter von 96 Jahren starb:

Ein Grab greift tiefer,
als die Gräber gruben -
Denn ungeheuer ist der Vorsprung TOD.
Am tiefsten greift das Grab,
das selbst den Tod begrub -
Denn ungeheuer ist der Vorsprung LEBEN.


Ja, die Totengräber graben nicht tief. Ein Meter 80, wie gesagt. Aber wie einschneidend kann der Tod sein, wie tief und schmerzlich die Erfahrung eines Grabes! Der Mann weint um seine Frau, die Kinder um ihre Mutter (oder schlimmer noch: die Mutter um ein totes Kind). Gräber stehen für die Härte des Todes.

In der Lesung – Ez 37, 12-14 – kündigt Gott etwas Großartiges an: Ich öffne eure Gräber und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf. Ich bringe euch zum Ackerboden Israels. Dann werdet ihr erkennen, dass ich der Herr bin.
Was ist damit gemeint? Zur Zeit des Propheten Ezechiel lebt das Volk in der Verbannung, in der Fremde in Babylon – fernab von Jerusalem, vom Tempel, vom lebendigen Gott. Die Menschen sind enttäuscht, sie haben die Hoffnung drangegeben, fühlen sich von allen guten Geistern verlassen und sind sich unklar in ihrer Identität: Wer sind wir eigentlich noch? Da wirkt dieser göttliche Impuls dann wie eine Auferstehung: Ich gebe meinen Geist in euch, dann werdet ihr lebendig. Tatsächlich können die Juden – wider Erwarten, und weil ein Großkönig, der von Persien, seine Politik ändert – nach 50 Jahren wieder in die zerstörte Heimat zurück, können wieder ein Volk sein. Das Grab tut sich sozusagen auf. Ein Neuanfang ist in Sicht. Die Menschen geben dem Geist der Hoffnung und des Glaubens wieder Raum – und werden dadurch lebendig.

Denn ungeheuer ist der Vorsprung LEBEN.

Im Evangelium von der Erweckung des Lazarus geschieht Ähnliches. Der Evangelist Johannes erzählt als einziger diese Geschichte. Sie erinnert an frühere Neuanfänge, und sie weist voraus in die Zukunft, auf Ostern. Durch diese hoch symbolische Geschichte mit ihrem unfassbaren Geschehen sollen die Menschen erkennen, dass Gott der Herr ist – der Herr über Tod und Leben, der dem Leben einen Vorsprung gibt.

Johannes ist ein großartiger Erzähler. Er weiß, wie man Gegensätze aufbaut. Tot ist tot, das ist die eine Seite. Lazarus im Grab riecht schon, die Verwesung hat schon eingesetzt. Da kann man nichts mehr machen. Da kann auch Gott nichts mehr machen. Jesus kommt zu spät. Vier Tage – zu spät.

Im Mittelpunkt des Evangeliums steht das Gespräch Jesu mit Marta, der einen Schwester des Lazarus. Jesus spricht das entscheidende Wort aus: Dein Bruder wird auferstehen. Er kündigt den Vorsprung Leben an. Marta gibt darauf eine Katechismusantwort, die im Grunde nichts hilft: Ja ja, ich weiß, dass er auferstehen wird am Jüngsten Tag, also am Ende der Welt. Aber das ist so himmelweit weg, das ist so abstrakt, da geht keine Hilfe und kein Trost und keine Kraft von aus. Das sprengt die Gräber nicht! So wenig wie ein heruntergemurmeltes Credo unsere Gräber öffnet.
Und jetzt kommt sie – die eigentliche Botschaft Jesu: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben ist. Und dann kommt sie, die entscheidende Frage, an Marta und genauso an uns: Glaubst du das? Was werden wir antworten? Sagen wir: Vom Tod und danach können wir nichts Rechtes wissen? Keiner ist zurückgekommen, keiner hat eine Erfahrung damit? Marta jedenfalls antwortet so: Ja, Herr, ich glaube, dass Du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll!

Der Evangelist Johannes – und nur er – erzählt so ein Zeichen für Gottes Möglichkeiten und für seine Herrlichkeit. Es klingt alles schon sehr nach Ostern. Aber Ostern ist doch anders: Lazarus kehrt in dieser Geschichte ins alte Leben zurück, und er wird irgendwann endgültig sterben. Jesus dagegen tritt zu Ostern in ein neues Leben ein, und er ist unter uns gegenwärtig für alle Zeiten. Er verkörpert den Vorsprung Leben:

Am tiefsten greift das Grab,
das selbst den Tod begrub.
Denn ungeheuer ist der Vorsprung LEBEN.


Jesus lädt zu einem Glauben ein, der Berge versetzen und Gräber öffnen kann. Zu einem Glauben, der die Hoffnung nicht aufgibt, der nicht resigniert, der nicht einstimmt in das übliche „tot ist tot“. Jesus erhob seine Augen zum Himmel, heißt es im Evangelium. Er blickt nicht nur auf die widrigen Umstände des Grabes, die es einem so schwer machen – er blickt zum Vater im Himmel auf, dem nichts unmöglich ist. Das ist die Blickrichtung des Glaubens! Der Glaube baut auf die Kraft Gottes. Der Kleinglaube bleibt immer hängen an den widrigen Umständen. Und die Kraft Gottes weckt unsere eigene Kraft.

Noch in anderes Beispiel dafür, im Evangelium: die Geschichte von der Brotvermehrung. Da haben die Jünger fünf Brote und zwei Fische. Und eine riesige Menschenmenge ist da. Und was machen die Jünger? Sie kalkulieren durch, sie rechnen: fünf Brote, zwei Fische – für 5000 Männer? So wenig Nahrung auf Vorrat und so viele Leute: das sind wirklich widrige Umstände. Natürlich kommen sie zu dem Ergebnis: „Was ist das für so viele?“ Da kriegen wir uns doch nur in die Haare, wer ein Stückchen Brot abbekommt, und wer nicht. Da fangen wir erst gar nicht an. Die Umstände lähmen. Die Sache geht nicht.
Und Jesus? Er nahm die fünf Brote und die zwei Fische, blickte zum Himmel auf und dankte dem himmlischen Vater. Und dann ließ er die Gaben austeilen, und es reichte für alle.

Das ist Glaube. Jesus macht es vor, und er lässt sich nicht lähmen – selbst nicht von einem Grab. Er sagt niemals: Es hat alles keinen Zweck. Oder: Tot ist tot. Er sagt: Steh auf. Oder: Komm heraus. Komm und tritt ins Leben!