„Wer nichts sieht, wird nicht gesehen“

Predigt am 19.03.2023


Jesus begegnet einem Blinden. Versetzen wir uns in diesen Menschen. Der Dichter Erich Kästner kann uns dabei mit einem Text aus seiner „Lyrischen Hausapotheke “ (aus dem Jahre 1936) helfen.

Ohne Hoffnung, ohne Trauer
hält er seinen Kopf gesenkt.
Müde sitzt er da und denkt:
Wunder werden nicht geschehen.
Alles bleibt so, wie es war.
Wer nichts sieht, wird nicht gesehen.
Wer nichts sieht, ist unsichtbar.
Schritte kommen, Schritte gehen.
Was das wohl für Menschen sind?
Warum bleibt denn niemand stehen?
Ich bin blind, und ihr seid blind.
Euer Herz schickt keine Grüße
aus der Seele ins Gesicht.
Hätte ich nicht eure Füße,
dächte ich, es gibt euch nicht.
Tretet näher, lasst euch nieder,
bis ihr ahnt, was Blindheit ist.
Senkt den Kopf und senkt die Lider,
bis ihr, was euch fremd war, wisst.
Und nun geht, ihr habt ja Eile!
Tut, als wäre nichts geschehen.
Aber merkt euch diese Zeile:
Wer nichts sieht, wird nicht gesehen.


Warum bleibt denn niemand stehen? Doch, einer blieb stehen und sah ihn an. Einer war unfähig, andere zu übersehen, über andere hinwegzusehen. Bei einem traf das sicher nicht zu: Euer Herz schickt keine Grüße aus der Seele ins Gesicht. Bei diesem einen – Jesus – konnte man die Herzensgüte im Gesicht ablesen. Er sah gut, sah mit dem Herzen. Sein Herz schickte ständig „Grüße ins Gesicht“. Man sieht nur mit dem Herzen gut; das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar, heißt es im „Kleinen Prinzen“ (von Antoine de Saint-Exupery) – aber es könnte auch in der Bibel stehen. Es trifft den Nerv der Bibel, es trifft die Sehweise und den Blickwinkel Jesu.

Das Herz Jesu – wir haben ein eigenes Fest und eine eigene Verehrung dafür. Es ist voll von Gott, voll von Gottes Liebe und Barmherzigkeit. Diese Liebe findet sich mit dem Blindsein nicht ab – sie will, dass wir Menschen sehen, klar sehen, klar erkennen. Auch: dass wir sehen wollen. Oft ist es ja viel einfacher und bequemer, nicht hinzuschauen, wegzugucken, die Türen und Fenster des eigenen Innern fest verschlossen zu halten. Oft ist es einfacher und bequemer, in einer Art innerem Halbschlaf zu leben – nicht mit offenen Augen. Es geht mich nichts an, sage ich dann schnell.

Im Johannesevangelium ist mit „Sehen“ immer wieder „Glauben“ gemeint. „Er sah – und glaubte“, heißt es dann. Die Wirklichkeit zu sehen – und in ihr Gott am Werk zu sehen – das schaffen „die Augen des Glaubens“. Man muss nur richtig hineinsehen in sein Leben – dankbar für das Vergangene, zuversichtlich für das Kommende.

Zurück zum Evangelium. Jesus heilte den Kranken, indem er ihm Zeit und Nähe und seine Zuwendung schenkte. Dann aber beginnt eine weitere Geschichte. Der Blinde kann wieder sehen; aber die Sehenden – so die Pharisäer - erscheinen nun wie blind. Ihre Denkweise, ihre festgelegte Weltsicht verschließt ihnen die Augen für das Wirken Jesu.
Im Evangelium heißt es: “Einige der Pharisäer meinten: Dieser Mensch, Jesus, kann nicht von Gott sein, weil er den Sabbat nicht hält. Andere aber sagten: Wie kann ein Sünder solche Zeichen tun? So entstand eine Spaltung unter ihnen.“ Das ist oft so: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Wir unterschätzen das, was möglich ist, und erst recht das, was Gott möglich macht. Darüber entsteht Streit, es kommt zur Spaltung.

Krankheit wurde früher oft mit Sünde und Schuld in Verbindung gebracht. Die Juden dachten damals so, und in weiten Teilen der Welt wird auch heute noch so gedacht. Dass es einem Menschen dreckig geht, das muss doch dann irgendwie mit einer Schuld im Zusammenhang stehen. So taucht die Frage auf: „Wer hat gesündigt: er oder seine Eltern?“ Im Evangelium sagen die Pharisäer dem Geheilten: „Du bist ganz und gar in Sünden geboren, und du willst uns belehren?“ Und sie schlossen ihn aus der Synagoge und aus der Gemeinschaft aus. Eine Art Exkommunikation ist das – genau das Gegenteil von dem, was Jesus tut. Er wirft niemanden hinaus, er holt den ehemals Blinden hinein in die Gemeinschaft der Sehenden.

Ein zweites Mal wendet sich Jesus dem Ausgestoßenen zu. Da ereignet sich das eigentliche und größere Wunder. Noch einmal das Zitat aus dem Evangelium: „Jesus hörte, dass sie ihn hinaus gestoßen hatten, und als er ihn traf, sagte er zu ihm: Glaubst du an den Menschensohn? Der Mann antwortete: Wer ist das, Herr? Sag es mir, damit ich an ihn glaube. Jesus sagte zu ihm: Du siehst ihn vor dir; er, der mit dir redet, ist es. Der Mann aber sagte: Ich glaube, Herr! Und er warf sich vor ihm nieder.

Der vormals Blinde findet das Licht des Glaubens, das weitaus mehr ist als das Augenlicht. Anders, ganz anders ist das als bei Erich Kästner, wo es hieß: „Wunder werden nicht geschehen. Alles bleibt so, wie es war.

Doch, Wunder werden geschehen, wenn die Sehenden nicht blind bleiben. Wenn sie zum Beispiel einen Blick bekommen für die Menschen in ihrer Not. Vieles von dem, was die Kirche heute umtreibt, etwa im Synodalen Weg, im Missbrauchsskandal oder im Umgang mit bisher abgelehnten Minderheiten, hat damit zu tun. Sie dürfen nicht ausgestoßen bleiben. Der erste Schritt ist der auf den Menschen zu. Dann mag das Wunder folgen, das die Augen öffnet für den Glauben an einen liebenden Gott, der unser Leben trägt und begleitet. Und der uns zur Güte führt.