Auge um Auge, Zahn um Zahn

Predigt am 19.02.2023


Vor ein paar Jahren heiratete ein Patenkind von mir. Er ist Zahnarzt, und seine Frau leitet eine Filiale von „Brillen Fielmann“ in Münster. Als ich ihn fragte, welchen Trauspruch sie ausgesucht hätten, da lachte er und schlug vor: „Auge um Auge, Zahn um Zahn!“

Nein, das kommt mir nicht vor wie ein guter Trauspruch – obwohl in mancher Ehe ja vielleicht dieses Motto großgeschrieben wird. Der Spruch aus dem Alten Testament klingt brutal. Aber eigentlich ist er human, und er war damals ein großer Fortschritt. Er besagt nämlich: Wenn einer dich überfällt und schlägt dir z.B. einen Zahn aus, dann darfst du ihm, um dich zu rächen, nicht das Leben nehmen, sondern eben auch nur einen Zahn! Also: Wie du mir, so ich dir – „mit der gleichen Münze“. Aber nicht mehr. Nicht: doppelt und dreifach heimzahlen! Das nannte man dann das „Gesetz der Wüste“ – und es war ziemlich vernünftig und realistisch, um mit Rache und Strafe umzugehen.

Aber Jesus geht in der Bergpredigt viel weiter. Seine Zuhörer haben wohl gedacht, sie hörten nicht recht – so provozierend ist, was Jesus sagt: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin.“
Hat das wohl schon einmal jemand ausprobiert? Oder schlägt ein jeder reflexhaft, automatisch zurück? Dem anderen die Wange hinhalten zum Schlag – wird das nicht als große Schwäche ausgelegt? Etwas für Feiglinge, für Leute, die sich alles gefallen lassen? Nein, würde Jesus sagen – es ist ein Zeichen großer Stärke! Auf Gewalt verzichten – stärker geht‘s eigentlich nicht!

Einer der wichtigsten Filme in meinem Leben lief so vor 30 Jahren – der Kinofilm über Mahatma Gandhi. Gandhi hatte sein Land Indien von der Herrschaft der Engländer befreit und in die Unabhängigkeit geführt. Herrscher gehen selten freiwillig, es kommt in der Regel zum Kampf, zum Blutvergießen, zum Krieg. Gandhi, der die Bergpredigt Jesu unter seinem Kopfkissen liegen hatte, versuchte es mit der Gewaltlosigkeit. Er hat die Worte Jesu ausprobiert, in die Tat umgesetzt – und siehe, es klappte, es ging! Man muss es nur versuchen, man muss nur anfangen damit. „Wo kämen wir hin“, sagen die Leute schnell und meinen: Das ist doch Quatsch. Das ist unmöglich! Der Schweizer Dichter und Pfarrer Kurt Marti setzt dagegen:

Wo kämen wir hin
wenn alle sagten
Wo kämen wir hin
und niemand ginge
um nachzuschauen
wohin man käme
wenn man ginge.

Schauen wir also nach, in besagtem Gandhifilm. Da waren Tausende Inder unter der Führung Gandhis auf der Straße, um friedlich zu demonstrieren. Die englische Kolonialregierung hatte diese Demo streng verboten. Es kommt zu einer Szene, die die Nerven der Zuschauer im Kino sehr strapaziert: Die Straße ist vorn abgesperrt von schwer bewaffneten Soldaten. Die Inder rücken auf, auf sie zu. Sie sind unbewaffnet. Die erste Reihe der Inder wird von den Soldaten mit Gewehrkolben niedergeschlagen, sie fallen bewusstlos um. Dann die zweite Reihe, die dritte Reihe. Alle rücken vor, laufen nicht weg, „halten die Wange hin“. Die Filmkamera schwenkt nun hin zu den Gesichtern der englischen Soldaten, zu ihren Augen. Darin sieht man das Entsetzen über das, was sie da tun und tun müssen – die Scham, die Gewissensbisse: wehrlose Menschen niederknüppeln? Wo steckt hier die Feigheit, die Schwäche – und wo die Stärke? Die Weltpresse jedenfalls ist geschockt von der Brutalität der einen und aufgewühlt von der Friedfertigkeit der anderen Seite. Solche Auftritte können sich die Engländer fortan nicht mehr leisten.

Auf diese Weise hat Gandhi sein Ziel erreicht: die Unabhängigkeit seines Landes. Gewaltlos. Ähnlich die Leute in der DDR, die 1989 in Leipzig und anderswo auf die Straße gingen. Sie alle haben eine innere Stärke gezeigt, die schon in Jesu Worten mitklingt. Sie waren bereit zu leiden, Schläge einzustecken – für ein großes Ziel, für die Freiheit. Der Hindu Gandhi vertraute nicht auf die eigenen Fäuste und Ellenbogen, sondern auf Gott. Und wenn man Gott vertraut, dann sagt man nicht so leicht: Das geht doch nicht! Das ist doch unmöglich! Gandhi, der Hindu, glaubte wie Jesus an die Möglichkeiten Gottes, die wir uns kaum träumen lassen. Und er ging, um nachzuschauen, wohin man käme, wenn man ginge.

Ja, und dann kommt noch in der Bergpredigt: Liebet eure Feinde! Wie denn das: Putin lieben? – Jesus versteht hier unter Liebe nicht das schöne warme Gefühl. Man muss den Feinden nicht um den Hals fallen. Man muss und kann sie nicht lieben, wie man seine Familie oder seine Freunde liebt. Aber man kann die Feindschaft „entgiften“. „Abrüstung“ im Denken, in der Sprache, in den Vorurteilen, in den Rachegefühlen und Schuldzuweisungen. Alte Geschichten nicht ewig nachtragen. Hassgefühle aufarbeiten. Den Feind nicht überall anschwärzen und schlecht machen. Das alles wirkt ja wie ein „Kreisverkehr“: ständig kreise ich um diese Feindschaft, um diesen Konflikt. Er raubt mir die innere Ruhe und Kraft. Raus aus dem Kreisverkehr – und dann nicht gleich in die nächste Sackgasse, sondern hin auf den Aus-Weg der Versöhnung. Hin in die Einbahnstraße der Vergebung.

Haben Sie Feinde? Vielleicht beten Sie jetzt in dieser Messe für sie – und für sich selber. Denn wir haben ja auch immer unseren Anteil an der Feindschaft. Und denken Sie daran: Gott lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.