Alte mit jungen Herzen

Predigt am 31.12.2022


Vor Weihnachten schickte man mir eine aufmunternde Spruchkarte: Ich bin nicht alt, ich bin nur schon ein bisschen länger jung als andere! Vielleicht ein Grund, etwas nachzudenken über die junggebliebenen Altgewordenen – wie heute im Evangelium Simeon und Hanna.

Unsere Senioren leben zuhause oder in Altersheimen. Ihre Lage ist sehr unterschiedlich. 70-jährigen geht es ziemlich anders als 90-jährigen. Ich denke bei den ganz Alten an Benedikt XVI, der heute Morgen im Alter von 95 Jahren gestorben ist. Die letzte Zeit saß er nur noch im Sessel, war geistig hellwach, konnte aber nicht mehr sprechen und nicht mehr gehen. Als seine Aufgabe für die Kirche verstand er das innere Gebet.

Ich kenne viele, die krank, geschwächt oder verwirrt sind und in Coronazeiten sehr isoliert waren. Sie erfahren ihr hohes Alter vor allem als Last, als Einschränkung. Sie können halt vieles nicht mehr. Ihnen und ihrem Schutz galt und gilt vor allem das vierte Gebot: Du sollst Vater und Mutter ehren! Nicht so sehr der Gehorsam der Kinder war gemeint, so wurde es uns ja immer ausgelegt: den Eltern gehorchen! Gemeint war eher: die Eltern im Alter schützen und ihnen beistehen. Es gab früher ja keine Altersversicherung – dafür sorgte die Familie. Die hohe Kinderzahl etwa in Afrika hängt mit der Erwartung zusammen, den vielen Kindern müsse es doch wohl gelingen, für die Alten da zu sein.

Heutzutage stehen bei uns die „jungen Alten“ mehr im Blick. Vielen geht es materiell gut, sie sind eine wichtige Gruppe von Kunden, reisen gern, gehen auf Kreuzfahrt und lernen Neues, z.B. Sprachen oder den Umgang mit dem Computer. Eine 90-jährige schickt mir regelmäßig Emails und twittert mit ihren Enkeln in Spanien und Frankreich – das hält sie jung. Lernen und für Neues offen sein: Ja, das hält jung! Ich zitiere gern die Dichterin Marie Luise Kaschnitz, die vor 50 Jahren schrieb: „Für mich ist Altwerden nichts Schreckliches. Es ist für mich kein Gefängnis, sondern wie das Heraustreten auf einen Balkon, von wo aus man einen weiten und genauen Ausblick hat.“ Ein schönes Bild: das Altwerden als Stehen auf einem Balkon, auf einer Terrasse mit weitem klarem Blick. Die Dichterin hat sicher an die Lebenserfahrung und die Lebensweisheit gedacht, die sich in vielen Alten angesammelt hat. Ähnlich sagt ein Sprichwort aus Afrika: Wenn ein alter Mensch stirbt, dann geht mit ihm eine ganze Bibliothek verloren – nicht unbedingt eine Riesenmenge an Detailwissen (da kennen sich die Jüngeren oft besser aus) – eher das Wissen darum, was im Leben wirklich wichtig ist, worauf es ankommt, und was man getrost vergessen darf.

Aber die Alten hüten nicht nur die Schätze der Vergangenheit, der Tradition und Erinnerung. Sie stehen oft auch für die Zukunft, sie haben einen „Riecher“ für das, was kommt und kommen muss. Der Prophet Joel kündigt im Alten Testament an: Die Alten werden Visionen und Träume haben – Phantasie und zündende Ideen sind ihnen nicht fremd! Ich denke gern an Papst Johannes XXIII, den Papst meiner Kindheit, der das 2. Vatikanische Konzil einberief – er war da schon fast 80 Jahre alt. Er tat das im tiefen Vertrauen auf den Geist Gottes, der in der Welt wirkt. Man muss nur (laut Papst Johannes) die „Zeichen der Zeit“ lesen können. Ähnlich steht es mit Papst Franziskus, er war bei seiner Wahl auch kein Jüngling mehr, und jetzt ist er 86. Was für ein Feuer auch bei ihm an Mut und Hoffnung, an klarem Balkonblick und energischem Zupacken! Auch im Rollstuhl ein großes Zutrauen in das Leben, weil Gott es mit uns lebt!

Aus ähnlichem Holz geschnitzt nun unsere beiden Alten im Evangelium: Simeon und Hanna. Zwei sehr alte Leute, die sich im Tempel einfinden und gegen alle Hoffnung hoffen. Sie halten die große Erwartung des Volkes Israel hoch und hoffen auf den Messias. Der greise Simeon litt darunter, dass das Gottesvolk nur noch wenig Glaubenskraft in sich hatte. Es war so ähnlich wie heute bei uns: Das Gottesvolk ist wie ein „toter Baumstumpf“; man traut ihm kein Leben mehr zu. Aber Simeon wartet, geduldig und gelassen. Er wartet mit langem, geduldigem Atem, dass aus dem toten Baumstumpf Israel doch noch eine neue Blüte wächst. Es ist ein Ros entsprungen, so singen wir und geben dem Simeon Recht. Mit „Geistesgegenwart“ erkennt Simeon nun in dem Baby, das da in den Tempel gebracht wird, den zukünftigen Messias, den Christus. Der Geist führte ihn, heißt es im Text, da kommt man nicht selber drauf. Simeon hat sehen dürfen. Er kann nun im Frieden gehen. Denn meine Augen haben das Heil gesehen – und dann folgt etwas wirklich Prophetisches: Heil für alle Völker, ein Licht zur Erleuchtung der Heiden, Herrlichkeit für dein Volk Israel.

Dieser Ausruf ist in die Komplet, ins Abendgebet der Kirche eingegangen, ins Gebet vor dem Schlaf. Ein Licht für alle, für alle Völker. Für die Völker Afrikas wie für die Ukrainer wie auch für die Russen. Licht nicht nur für mich, für unsereins, für meine Familie oder Gemeinde – nein, für alle!

Halten wir uns an Simeon auch in diesen winterlichen Zeiten der Kirche, wo so vieles abgestorben ist. Sehen wir auf die Blüte, auf die blühende Rose. Diese Hoffnung, Geduld, Gelassenheit, Klarsicht und Geistesgegenwart des alten Simeon ist uns allen zu wünschen, auch im Blick auf das neue Jahr 2023!

Halten wir uns fürs neue Jahr an das, was der große heilige Bischof Augustinus den Seelsorgern, ja allen Christen ans Herz legt: „Kleinmütige trösten, sich der Schwachen annehmen, sich vor Nachstellungen hüten, Träge wachrütteln, Unruhestifter zurückhalten, Verzagte ermutigen, Streitende besänftigen, Armen helfen, Unterdrückte befreien, Guten Anerkennung zeigen, Böse ertragen und – ach! – alle lieben“ (Augustinus, Sermo 340).