Vision des Advent

Predigt am 27.11.2022


Heute geht es um eine Vision. „Wer Visionen hat, sollte lieber zum Arzt gehen“, hat zwar mal ein Bundeskanzler vor Jahrzehnten gesagt, Helmut Schmidt. Er schlug sich damals mit der jungen Generation der 68-er herum, mit den Studenten, die nach Revolution lechzten, nach der Vision der klassenlosen und herrschaftsfreien Gesellschaft. Helmut Schmidt war sehr genervt davon. Er musste und wollte vernünftige Tagespolitik machen.

Aber so leicht kann man die Visionen nicht wegdrängen – schon gar nicht zum Arzt hin abschieben. Auch unser Glaube ist voll von Visionen. Und das ist gut so! Visionen sind keine leeren Wunschträume, sind keine Illusionen. Visionen sind Zielbilder: Dahin soll die Reise gehen! Da sollen und wollen wir hin! So könnte es werden. So will es Gott! So will er es für unser persönliches Leben. So will er es für die Gesellschaft, für die Welt.

Advent ist die Zeit einer großen Vision. Advent ist nicht bloß Glühwein und Weihnachtsmarkt und Spekulatius, ist nicht bloß Lichterglanz und Türchen öffnen am Adventskalender. Advent ist eher: die Augen öffnen, die Brille putzen, einen klareren Blick gewinnen für die Sicht Gottes auf die Welt, für seine Vision, was kommen kann und kommen soll.

Ein solches Zielbild ist in der Lesung (Jesaja 2,1-5) zu finden. Am Ende der Tage – dahin zielt es. Zum Berg Zion mit dem Tempel strömen alle Völker. Viele Nationen machen sich auf den Weg und sagen: Er zeige uns seine Wege.

Ach, die vielen Nationen strömen zurzeit nicht zusammen. Sie laufen auseinander! Sie suchen nicht nach dem Gemeinsamen, sondern eher das Eigene, den eigenen Vorteil! Dafür beginnen manche sogar einen grausamen Krieg! Und so fällt die Welt wieder mehr und mehr auseinander, man baut eher Mauern und Zäune als Brücken.

Im Heiligen Land etwa, das Jesaja ja anspricht, stehen Israelis und Palästinenser sich fremd, ja feindlich gegenüber. Eine hohe Mauer trennt ihre Gebiete voneinander. Das Ganze - ein ewiger Krisenherd! Viel Blutvergießen! Und da sagt nun der Prophet Jesaja, lange vor Jesus: Es gibt eine Wallfahrt der Völker zum Tempel nach Jerusalem! Eine tolle Vision! Was suchen denn die Völker, was brauchen sie? Weshalb machen sie sich auf? Offensichtlich suchen und brauchen sie einen gemeinsamen Bezugspunkt, etwas Verbindendes. Sie möchten die Welt als Einheit erfahren können – ein bisschen so wie auf den Weltjugendtagen, wo Menschen aus allen Ländern ihren Glauben teilen und feiern. Aber wie beschädigt ist diese Vision von den tausend und abertausend Rechthabereien, Kriegen und Konflikten der Menschheit! Und doch bleibt diese Vision gültig! Steigen wir in die Vision ein und machen eine geistige Reise nach Jerusalem.

Ich bin mehrmals in Jerusalem gewesen. Es ist eine der ältesten Städte der Welt. Hochgelegen in den Bergen. Heute eine Großstadt, mehr als 800.000 Einwohner. Jerusalem ist nicht nur eine Stadt wie andere auch – also ein Raum zum Leben, zum Arbeiten, zum Schlafen. Jerusalem ist ein Symbol. Jerusalem ist eine heilige Stadt! Drei Religionen betrachten sie so: Juden, Christen und Muslime. Ständig haben sie um diese Stadt gekämpft; die Mauern der Stadt waren nötig. Der Unfriede, die Spannung prallte an ihnen nicht ab.

Was könnte in dieser ständig umkämpften Stadt der gemeinsame Bezugspunkt sein? Ich denke, es ist der Sinn für das Heilige, für die Heiligtümer. Es ist der Sinn für Gott, auch wenn Er auf unterschiedliche Weise verehrt wird. Über die Mauern der Stadt ragen die Kuppeln – besonders der Felsendom der Muslime, der an der Stelle des alten jüdischen Tempels gebaut wurde. Wieviel Frieden könnte davon ausgehen, wenn Gott nicht gegen Gott gestellt wird – der Gott der Christen etwa gegen den Gott der Muslime. „Mein Gott“ gegen „dein Gott“? Wie wäre das, wenn die drei Religionen ihre Erinnerungen und ihre Hoffnungen und Visionen austauschen und miteinander teilen. Die Erinnerung zum Beispiel an Abraham, den alle drei als „Vater des Glaubens“ ansehen. Die Hoffnung, wie sie bei Jesaja vorkommt: dass Gottes Weg-Weisung für alle heilsam und gut ist und so der Friede wachsen kann. Die Hoffnung, dass da ein „Berg“ ist, der auch dann fest steht, wenn alles andere wankt; der aufragt, wo alles andere versinkt. Die Hoffnung, dass „Schwerter in Pflugscharen“ verwandelt werden. Dieses Bild hat damals die Friedensbewegung der 80er Jahre aufgegriffen – wenn doch eine wirkliche Friedensbewegung heute durch die Welt ginge und verhindern könnte, was da z.B. gerade in der Ukraine passiert!

Überall in Jerusalem werden den Pilgern und Touristen Gräber gezeigt. Es wurde viel gestorben in der Heiligen Stadt, oft gewaltsam. Ein fast unendliches Gräberfeld! Aber Jerusalem ist kein Friedhof, sondern ein Ort der Hoffnung. Wir Christen sagen: Das Grab konnte Jesus nicht festhalten. Er ist nicht begraben, er ist auferstanden und geht uns voran! Und so ist die Auferstehung Jesu das schönste und deutlichste Signal für Gottes Vision vom Leben.

In diesem Advent – und in der Spur dieser Lesung – können wir beide Seiten erkennen: die Gewalt und Ungerechtigkeit, wie sie in der Welt ständig zu sehen ist – und den Ausweg, die gemeinsame Wallfahrt der Völker, das Zugehen auf den gemeinsamen Bezugspunkt und Schlusspunkt: auf Gott. Zugehen! Gut, wenn wir von diesen vier Adventswochen sagen könnten: Wir sind auf den Herrn zugegangen!