„Er hat wirklich alles gegeben!“

Predigt am 09.07.2022


Über das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist wirklich schon alles gesagt. Und was gesagt wird, klingt immer so groß, und irgendwann klingt es dann auch ein wenig falsch – diese Barmherzigkeit. Als müsste jede und jeder von uns eine Mutter Teresa sein.

In den letzten Tagen fiel mir wieder ein Buch in die Hand, das lange Zeit ein Bestseller in Deutschland war. Ein Pfarrer aus München, einer, der seine Kirche immer voll hat, hat es geschrieben: Rainer M. Schießler. Der Titel klingt echt bayrisch: Himmel, Herrgott, Sakrament. Untertitel: Auftreten statt austreten.
Der Pfarrer, der sich zum Oktoberfest immer Urlaub nimmt und dann auf dem Fest kellnern geht, um nah bei den Leuten zu sein, erzählt u.a., was ihn geprägt hat, was ihn auf den Weg zum Priester gebracht hat. Da gibt es eine Geschichte, wie er zum ersten Mal als Neunjähriger die Messe dient. Diese Geschichte fiel mir ein, als ich ein anschauliches und fassbares Beispiel suchte für Barmherzigkeit heute. Das klingt bei Schießler ungefähr so (S. 25ff):

Ich wollte Messdiener werden, brannte für meine neue Aufgabe und war peinlichst darauf bedacht, keine Fehler zu machen! Aber man ließ mich noch nicht ran, nur bei Andachten durfte ich mit gefalteten Händen fromm die Augen niederschlagen. Bis dann der 3. Advent 1971 kam – da rief mich der Küster in die Sakristei und sagte: Zieh dich an! Ein Messdiener fehlt, ist krank geworden. Es traf mich völlig unvorbereitet. Ich spürte heftiges Lampenfieber. Da stand ein Kaplan, Elmar Gruber mit Namen. Und ich war so aufgeregt! Alle möglichen Gefühle waren auf einmal in mir drin – von Angst bis zum Stolz, es endlich geschafft zu haben. Und das alles vor vielen Leuten, in einer voll besetzten Kirche! Die Wandlung kam, und ich – ich hätte eigentlich läuten müssen. Stattdessen bin ich ballettmäßig einen kleinen Schritt nach vorn getreten, habe mich leicht verbeugt wie im Theater und im hohen Bogen alles herausgekotzt, was in meinem von Aufregung gebeutelten Magen vorhanden war. Das ganze Frühstück. Die ganze Anspannung. Alles raus, vor die Füße der Leute! Vor meine spöttischen Freunde in der ersten Bank. Die anderen Ministranten haben fassungslos geschaut. Und der Küster hat derb bayerisch geschimpft: „Den ganzen Boden hast mir vollgespeit. Den Talar nimmst mit zum Reinigen, sag deiner Mutter, was du angerichtet hast!“ Ich bin völlig niedergeschmettert nach Hause geschlichen. Was für eine Niederlage! Erst so erhöht, endlich Ministrant. Und dann so tief gefallen! Ich dachte, das war die kürzeste Ministrantenkarriere, die es je gab. Dauer: eine halbe Stunde. Ich würde wohl nie mehr aufgestellt werden. Der Küster würde das wohl verhindern. Und jeder würde sich lustig machen über mein Mißgeschick. Eine Lachnummer würde ich sein, wochenlang.
Ich war an dem Punkt, wo Erwachsene ans Auswandern nach Australien denken. Bin zu Hause reingeschlichen, tränenüberströmt, aber die Mutter reagierte verständnisvoll, gab den Talar gleich in die Wäsche und mir einen Kamillentee, damit lag ich auf der Couch im Wohnzimmer und versuchte zu sterben. Innerlich war ich schon fast tot. Eine Welt war für mich zusammengebrochen. Und da liegst du da mit deinen neun Jahren Unschuld, als plötzlich das Telefon schellte. Ich hörte, wie meine Mutter mit irgendwem telefonierte, erst hörend, dann auf einmal – lachend! Sie sagte zu mir: „Ja, da hat der Kaplan Gruber angerufen, dem du die Messe geschmissen hast!“ „Und?“, rutschte ich tiefer ins Sofa. „Er hat gefragt, wie es dir geht – und er ist stolz auf dich!“ „Was? Wie bitte? Wie kann der stolz auf mich sein?“ „Nun,“ sagte die Mutter, „er hat es so ausgedrückt: Du bist der Einzige in der Messe gewesen, der alles, ja wirklich alles gegeben hat!“
Ich habe den Wortwitz erst nicht kapiert. Diese Doppeldeutigkeit – „wirklich alles gegeben!“ Und dann bat der Herr Gruber meine Mutter noch, mich am nächsten Sonntag wieder zum Dienen zu schicken. Ich würde bestimmt ein guter Messdiener werden.
Wie das Ganze in mir nachgewirkt hat? Es war das prägendste Erlebnis meines Lebens. Es war, als wäre mir Jesus Christus höchstpersönlich erschienen, hätte seine Arme ausgebreitet und mich an sich gedrückt. Elmar Grubers Barmherzigkeit war für einen Gefallenen wie mich, der eben noch geglaubt hatte, er sei für Zeit und Ewigkeit verstoßen, die vollkommene Erschütterung – so unerwartet traf es mich. Ich hatte alles gegeben – und alles bekommen! So blöd es klingt, aber vom Gefühl her habe ich nie wieder in meinem Leben so intensiv erfahren, was „Liebe deinen Nächsten“ wirklich ist, was bedingungslose Barmherzigkeit wirklich bedeutet. Ich war von diesem Gefühl vollkommen ausgefüllt. Niemand hat mir danach noch einmal irgendwas aus dem Wirken von Jesus Christus erklären müssen. Wer das mal erlebt hat, braucht keine fünf Jahre Theologie zu studieren, um ein guter Seelsorger zu werden.
Und so habe ich immer wieder wunderbare Menschen bei mir gehabt, die mir ein Christentum vorgelebt haben, das so einfach und zutiefst menschlich und liebevoll wirkte, von einer Barmherzigkeit, die alles andere als hochgestochen war..