Fronleichnam

Predigt am 16.06.2022


Tarzisius war ein Junge von 12 Jahren. Er gehörte zur Gemeinde der Christen in Rom, in harter Verfolgungszeit. Er hatte sich bereit erklärt, die heilige Kommunion quer durch die Stadt zu tragen – ins Gefängnis. Dort kannte er einen Wärter, der sie an die christlichen Gefangenen weitergeben wollte. Ein gefährlicher Auftrag! Unterwegs wurde Tarzisius von einigen Halbstarken angegriffen. Sie wollten unbedingt sehen, was er da so geheimnisvoll unter seiner Toga versteckte. Sie würden, da war er sicher, mit der Kommunion ihr Spielchen machen und ihren Spaß haben. Sie würden sie auf die Erde in den Dreck werfen, auf ihr herumtrampeln – auf dieses verhasste christliche Geheimzeichen. Tarzisius wehrte sie ab – und wurde von einem Stein erschlagen. Eine alte Inschrift aus dem 3. Jahrhundert erinnert in Rom an diesen jungen Christusträger.

Warum setzte sich Tarzisius solcher Gefahr aus? Er hatte einen Sinn für das Heilige, wollte es hüten und schützen. Niemals sollte es durch den Schmutz gezogen, nicht einmal dreckigen Bemerkungen ausgesetzt werden. Er hatte einen Sinn für das Heilige, ja für das Allerheiligste, wie wir die Kommunion auch nennen. Das war etwas, das für ihn nicht beliebig und verhandelbar war in einer Welt voller Beliebigkeit. Das war etwas – und darin einer: Christus. Für ihn ließ der römische Junge sein Leben. Das Allerheiligste.

Sagen wir das Wort einem, der unsere religiöse Sprache nicht kennt, vielleicht fragt der neugierig zurück: Was ist das denn? Meint ihr das Allerwertvollste, das Allerteuerste, das man mit aller Kraft verteidigt, wenn einer es wegnehmen will? So wie Gold und Juwelen und Diamanten? Etwas, das man zuhause im Tresor verwahrt, in der Schatzkammer? - Und wenn wir ihm dann sagen: Wir meinen ein kleines Stückchen Brot, dann wird er sehr erstaunt sein und fragen: Wie? Mehr nicht? Das ist schon alles?
Ja, das ist alles. Mehr nicht. Ein kleines Stückchen Brot – das in einer Prozession durch die Stadt getragen wird. Eingefasst zwar in eine wertvolle Monstranz mit Gold und Edelsteinen, die ansonsten im Tresor der Kirche verwahrt wird. Aber auf die Monstranz kommt es gar nicht an. Auf das kleine Stückchen Brot kommt es an. Vor ihm gehen Menschen noch auf die Knie. Sie spüren: da kommt etwas Heiliges – ganz klein, aber in äußerster Verdichtung.

Was ist ansonsten "heilig" bei uns? Die meisten werden wohl antworten: das Leben. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Unantastbar – heilig. Aber dann hört man die Nachrichten: Dutzende Menschen, Flüchtlinge, ersticken im Kühltransporter, worin sie wie Schweinehälften ins Ausland transportiert wurden. Tausende ertrinken im Mittelmeer. In der Ukraine und anderswo werden sie wie Freiwild gejagt und erschossen.
Das Leben – unantastbar? Nein: angetastet, entheiligt. An tausenden Fronten. Überall. Das Gespür, dass etwas heilig und unantastbar ist, schwindet. Das Leben – heilig? Man manipuliert damit herum. Der Sonntag – heilig? Heruntergekommen zur reinen Freizeit, zum Wochenende. Die Ehe – heilig? Nur noch e i n Modell des Zusammenlebens neben anderen. Die Schöpfung – heilig? Eher ein Steinbruch, aus dem sich jeder bedient.

Wir Christen dürfen und sollen das Gespür für Heiligkeit neu entdecken. Unser Sinn muss sich schärfen für alles, was unantastbar ist und über das man nicht einfach und beliebig verfügen kann. Für alles, was an ein letztes Geheimnis rührt, an Gott. Dieser Fronleichnamstag mit dem kleinen Stückchen Brot in der Mitte bietet dazu wirklich eine Gelegenheit. Und darum ziehen wir, wenn das Wetter es zulässt, in einer Prozession durch die Straßen unserer Stadt, um an das Heilige zu erinnern und es gegenwärtig zu halten.

Heilig – das sind die Gaben des heiligen Gottes. Meine Mutter hat, wenn sie ein Brot anschnitt, ein Kreuzzeichen über das Brot gemacht. Sie spürte: Brot ist mehr als nur ein schneller Sattmacher für den Magen – es ist Gottes Gabe, ist das, was wir zum Leben brauchen: "Unser tägliches Brot gib uns heute!" Wir leben ja weithin noch immer im Überfluss. Es ist alles da – für viele. Knappere Zeiten lehren uns, das nicht für selbstverständlich zu nehmen, sondern dafür dankbar zu sein. Und die Armen der Welt können uns zeigen, dass gerade die Knappheit das Brot heilig macht. Ich habe selber gesehen, mit welcher Andacht Arme in Afrika ein Stück Brot aßen. Und jetzt steigern und toppen wir das Heilige noch und verehren das Allerheiligste!

Heilig sind die Gaben Gottes. Das Allerheiligste bedeutet dann: Gott gibt sich selbst. Nicht irgendetwas – sich selbst. Das ist eine Liebe, die einen schier schwindelig machen kann. Dieses Geben hat einen Namen: Jesus Christus. Er ahnt beim letzten Abendmahl seinen nahen Tod, nimmt ein Stück Brot und sagt: Nehmet und esset! Das ist mein Leib, das bin ich selbst – hingegeben für euch. Ich – der Mensch für andere. Ich, Gott-für-die Menschen.

So zu reden, so zu handeln, so zu leben: das ist das Allerheiligste. Ich wüsste nichts, was darüber hinausgehen könnte. In dem kleinen Stückchen Brot verdichtet es sich und wird zu einem sprechenden Zeichen. Wir nehmen es in unsere Mitte und tragen es durch die Stadt. Nicht eigentlich es, sondern IHN! Und indem wir mitgehen, werden wir zu Christusträgern. Christus will zu den Menschen getragen werden, auch zu denen, denen er fremd geworden ist – fremd wie Gott.

Hier, an seinem Tisch, stärkt er uns für dieses Tragen. Er kann uns die Angst nehmen, wenn wir ihn nur im sicheren Insider-Raum der Kirchen und Gemeinden und nicht in der Stadt, ganz nah bei den Menschen, halten wollen. Aber Christus „gehört an die frische Luft!“ Er bittet uns, ihn durch die Stadt zu tragen. Nicht nur in der Monstranz, sondern im Alltag. Wo einer für den anderen da sein kann. Und die Stadt ein menschliches Gesicht bekommt.