Jesu letzter Wille

Predigt am 15.05.2022


Es ist der Abend des Paschamahls und der Fußwaschung. Und dann kommt die dunkle Nacht. Judas ist hinausgegangen in die Dunkelheit, um Jesus zu verraten. Das lastet schwer auf Jesus und seinen Jüngern. In einer solchen Nacht „ist der Mensch nicht gern alleine“. Und so bleibt Jesus mit den Jüngern zusammen. Er weiß: Bald kommt die Stunde des Abschieds, die Stunde des Todes. Was sagt man da? Es gibt ganze Buchsammlungen mit „letzten Worten“. Goethe z.B. sagte als letztes: „Mehr Licht!“ Wenn man noch klar im Kopf ist, möchte man den umstehenden Angehörigen vielleicht noch etwas mitgeben - eine Art Vermächtnis, eine Summe des Lebens, eine Art „Testament“. Etwas, das einem richtig am Herzen liegt. Haltet zusammen, oder so ähnlich.

Jesus verabschiedet sich im Johannesevangelium mit einer langen Abschiedsrede - über mehrere Bibelkapitel geht die hinweg. Für die Jünger dürfte dieser Satz am meisten nachhallen: „Ich bin nur noch kurze Zeit bei euch!“ „Meine Kinder“ nennt er sie: ziemlich merkwürdige Anrede für gestandene Männer! Aber auch sehr familiär. Vielleicht denkt Jesus dabei: die Jünger bleiben jetzt zurück - wie Waisen, wenn die Eltern sterben. Wie allein, wie „verwaist“ werden die Jünger sein, nach Jesu Tod?
Wie geht das: ohne Ihn? Was wird bleiben zwischen dem Herrn und seinen Jüngern? Gibt es ein Band, das sie weiterhin miteinander verbindet? Und uns mit ihnen, zweitausend Jahre danach? Gibt es den berühmten „roten Faden“, quer durch die Zeiten?

Zu Beginn der Abschiedsrede kommt zunächst eine Barriere, eine richtige Stolperkante: fünfmal das schwierige Wort „verherrlichen“. Der Prediger gerät in Verlegenheit vor diesem schwierigen Satz: „Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht, und Gott ist in ihm verherrlicht. Wenn Gott in ihm verherrlicht ist, wird auch Gott ihn in sich verherrlichen, und er wird ihn bald verherrlichen“. Puh! War das verständlich? Wohl kaum! Man kann diese beiden schwierigen Sätze so umschreiben: Jetzt wirkt der Verrat, jetzt tut Judas sein Werk, jetzt beginnt die Passion. Jesus gibt sein Leben hin - am Kreuz. Das sieht aus wie eine Katastrophe und ist es auch. Aber dadurch wird Jesus in die Sphäre Gottes, in seine Herrlichkeit und seinen Lichtglanz erhoben, in das Licht von Ostern. Das heißt: „verherrlicht“. Sehr menschlich gesprochen:
Der Vater kann stolz sein auf einen solchen Sohn! Denn der tut mit Haut und Haaren und jeder Faser seines Wesens das, was der Vater will. Der Sohn ist ganz Liebe - wie der Vater. Der Sohn, der alles hingibt, sogar sein Leben, wird ganz eins mit dem Vater. Der Gekreuzigte fällt in die Dunkelheit des Todes, aber zugleich fällt er in den Lichtglanz des Vaters, ins ewige Licht.

Sehr anschaulich erzählt der Evangelist Markus von diesem doppelten Gesicht des Kreuzes. Ein heidnischer (römischer) Hauptmann steht da unter dem Kreuz und schaut zum Gekreuzigten auf. Er sieht das Elend und das Blut und das Grauen und ruft im Augenblick, als Jesus stirbt, laut aus: „Wahrlich, dieser Mensch war Gottes Sohn!“ Man muss wirklich schon ganz besondere Augen und Sinne haben, um im Leiden und Tod eines Menschen die Herrlichkeit und den Glanz Gottes zu ahnen.

„Ich bin nur noch kurze Zeit bei euch.“ Man könnte vermuten, dass Jesus bei solchen Aussichten nun die Jünger tröstet. Das wäre sehr menschlich. Aber das tut er nicht. Stattdessen gibt er ihnen einen Auftrag: „Liebt einander!“ Sie sollen sich nicht im Vergangenen einrichten und von alten Zeiten schwärmen nach dem Motto: „Wie schön war es doch damals mit Jesus!“. Vielmehr sollen sie ganz in der Gegenwart leben. Gott kommt immer heute - jetzt ist seine Stunde, die ich merken - oder auch verpassen kann.

Und über diesem Heute steht das große Stichwort Gottes: Liebe. Liebe, d.h. mitdenkende Sorge, verlässliches Begleiten, Geduld, behutsame Nachsicht. Das Modell dafür ist Jesus selber: „Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.“ Die so einfach klingende Gleichung soll aufgehen: Wie Gott mir, so ich dir!
Wie Gott zu mir, so ich zu dir! Eine Rechnung, die Gott schon in Jesus beglichen hat, - während wir häufig genug herumknausern und nur ganz kleine Münzen hervorholen.

Die Jünger haben diesen Auftrag angenommen: Liebt einander! Kann man Liebe befehlen und kommandieren? Wohl kaum! Die Jünger spürten aber eine Kraft der Liebe, die von Jesus ausging. Bei der Fußwaschung sagt Jesus zu Petrus, der sich sträubt und abwehrt und sich nicht die Füße waschen lassen will: „Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir - dann hast du mit mir nichts zu schaffen!“ Es kommt also erst mal darauf an, den liebevollen Dienst anzunehmen. Viele Menschen tun sich schwer damit, Zeichen der Liebe anzunehmen. Aber nur so haben die Jünger - und haben wir - Anteil an Jesus, sind ein Teil von ihm, gehören zu ihm. Und Jesus fügt hinzu: „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“

Alle werden erkennen! Es gibt also ein Erkennungszeichen für uns Christen. Nicht das Gebetbuch und nicht das Kreuz an der Wand im Wohnzimmer und nicht der Kirchturm um die Ecke, so wichtig das alles sein mag. Dieses Erkennungszeichen für Christus und die Christen ist die Liebe. Sie ist der rote Faden quer durch die Zeiten, die Spur, das vereinende Band.
Die Liebe ist das Erkennungszeichen der Christen. Wenn ihr einander liebt. Wenn.
Und nur dann! Sonst wird nichts zu erkennen sein, was wirklich wertvoll ist. Helfe uns Gott, dass das Wenn Wirklichkeit wird, immer wieder neu.