Johannes Broxtermann - Predigten - Gedanken

Berührende Wunden

Predigt am 24.04.2022


Immer wieder werden in diesen Wochen Menschen aus der Ukraine im Fernsehen gezeigt. Leute, die traumatisiert durch die Ruinen irren – sie haben alles verloren. Flüchtlingsfrauen, die ihre Männer so sehr vermissen. Menschen, die schwer tragen an den Verbrechen, die ihrem Volk angetan werden. Seelisch verwundete Menschen ohne Zahl.

Wunden gehören zu unserem Leben. Das alles tragen wir mit uns: Schuld. Vielleicht sogar „Leichen im Keller“! Alles, was schiefgegangen ist, Scheitern. Verbiegungen des Charakters, Unfähigkeit. Schläge des Schicksals - das sehr hart zuschlagen kann! Kränkungen und Enttäuschungen, die sich tief in uns eingefressen haben. „Männer sind so verletzlich,“ dichtete der Sänger Herbert Grönemeyer in einem seiner bekanntesten Lieder. Aber Frauen nicht weniger, oder Kinder. Wir alle tragen Wunden, Abdrücke der Verletzlichkeit mit uns herum.
Und wie gehen wir damit um? Manches vernarbt, wird Gewohnheit. Aber auch die Narben erinnern ja noch an die Wunde. Manches liegt weiter offen und bloß. Wer zeigt das schon gern? In der Regel machen wir es mit uns selbst aus, verbergen unsere Verletzungen, so gut es geht, und präsentieren lieber unsere „Schokoladenseite“ – unsere Stärken, unsere angenehmen Züge und Facetten. Das, was gut ankommt.
„Der Indianer kennt keinen Schmerz,“ hat man früher den Jungs gesagt. Also: die Zähne aufeinanderbeißen, und lächeln, immer nur lächeln.

Ziemlich anders klingt das im heutigen Evangelium (Jo 20, 19 -31). Jesus, der Auferstandene, zeigt seine Wunden – die Wundmale, die der Tod am Kreuz hinterlassen hat. Sie sind geradezu sein Erkennungszeichen! Auferstehung ist also nicht nur Glanz und strahlendes Licht und Glück und vollkommene Schönheit. Tod und Kreuz sind nicht abgehakt und weggewischt und spurlos verschwunden. Die Wunden bleiben. Sie sind wie Augen – lassen uns tiefer und weiter sehen. Wunden sind wie ein Riss – und gerade dort kann das Licht durchscheinen.

Die Wundmale sind wie eine eigene Predigt: Gott nimmt das Leiden ernst und „schminkt es nicht zu“. Es prägt uns. Seine Spuren sind noch zu spüren. Aber er führt uns, wie Jesus, über die Grenze des Leidens hinaus; er gibt den Wunden und Schmerzen nicht das letzte Wort! Die Wunden sind die Orte, die uns mit Jesus verbinden – wo wir sozusagen bei ihm „anklopfen“, andocken können. Wir, die auf unsere je eigene Art Verwundeten.

Besonders eindringlich ist das Bild der Seitenwunde. Sie führt zum Herzen Jesu. Das Bild sagt also: Das Herz Jesu „steht offen“, ist zugänglich und erreichbar. Der Auferstandene „lässt der Barmherzigkeit freien Lauf“ – wie schon vorher, in seinem Leben vor dem Tod. Der Evangelist Johannes gräbt sich richtig in dieses Bild hinein. In seiner Passionsgeschichte schreibt er, und nur er allein: Nach Jesu Tod öffnete ein Soldat die Seite Jesu mit einer Lanze, und sogleich floss Blut und Wasser heraus. Der Tod Jesu ist also nicht nur die Katastrophe unerhörter Grausamkeit. Im Nachhinein ist er wie eine Quelle des Lebens. Quelle des Heiles! Blut und Wasser weisen hin auf das, was unser Christsein zusammenhält – Wasser auf die Taufe, Blut auf den Kelch der Eucharistie! Von dieser Quelle leben wir geistlich bis heute.

Nun tritt im Evangelium der Apostel Thomas ins Bild. Er ist skeptisch, wie ein moderner Mensch. Und er war „draußen“, nicht dabei, als Jesus den anderen Jüngern erschien. Von draußen erkennt man die Dinge nicht so leicht. Wie, kann das denn stimmen: Jesus lebt? Dann will ich seine Wunden berühren. Ich brauche einen Beweis. Ich will keinem Phantom aufsitzen. So denkt er, wer kann es ihm verdenken?
Und Jesus lässt das zu. Er lädt ihn geradezu ein. Komm, sagt er. Streck deinen Finger hierher aus. Du kannst ruhig die Wunden berühren!
Aber Tomas braucht jetzt diesen „Beweis“ gar nicht mehr. Ein Glaubensbekenntnis in Kurzfassung bricht aus ihm heraus: Mein Herr und mein Gott!
Anders als Thomas sollten wir noch etwas bei den Wunden bleiben. Nicht, weil sie etwas beweisen. Sondern weil sie heilen! „Durch seine Wunden sind wir geheilt“, heißt es in der Bibel.
Vom heiligen Martin wird erzählt, dass ihm der Satan einmal sogar in der Gestalt Christi erschienen ist. Der Heilige ließ sich jedoch nicht täuschen. „Wo hast du deine Wunden?“, fragte er. Der Satan, der Böse kommt offensichtlich ohne Wunden aus, bei seinem Versteckspiel hat er sie vergessen. Er setzt auf Stärke und Glanz. Die Wunden dagegen gehören zu Gott, zu Jesus, zum Werk der Erlösung. „Nur der leidende Gott kann helfen,“ schrieb Dietrich Bonhoeffer, auch er ein Gefangener. In der Einsamkeit der Haft und der Gefängniszelle spürte er, wie seine Ängste, seine Schwachheit und seine inneren Wunden ihn verbanden mit dem gekreuzigten und auferstandenen Christus. Nicht unsere Stärken und Leistungen, sondern unsere Verletzungen, Narben und Schwächen sind die Brücke zu Gott! Was für eine Botschaft der Hoffnung! Niemals am Leid der Menschen vorbei, sondern durch das Leid der Menschen hindurch, das er am eigenen Leib getragen hat und kennt, zeigt uns Jesus, wer er ist: Mein Herr und mein Gott! Und lädt uns ein, den Wunden nicht auszuweichen. Sondern sie anzunehmen – als Brücke zu ihm und zu den anderen.
Das könnte der Weg der Heilung sein.