Der Mantel des Bartimäus

Predigt am 24.10.2021

Eine Blindenheilung. Unser Interesse richtet sich wahrscheinlich auf die Augen des Bartimäus, vorher und nachher. Was ist mit denen passiert? Aber der Evangelist bedient unsere Neugierde nicht. Er schreibt nur: Im gleichen Augenblick konnte der Blinde sehen… Das ist alles.

Stattdessen erzählt Markus viel vom Drumherum. Da wird geredet und gegengeredet. Der Bettler sitzt am Wegesrand und ruft, ja schreit um Erbarmen. Das muss ein Bettler tun, gerade ein Blinder – Aufmerksamkeit schaffen für sich. Erbarmen! Bitte eine Münze! Bitte einen Euro! Überseht mich nicht, den Blinden!

Bei Jesus, dem Wundertäter, dem Boten Gottes, erhofft er sich wohl ein anderes Erbarmen. Gesehen werden, wahrgenommen werden, Ansehen bekommen, Mensch sein dürfen, nicht in der Rolle des Bettlers festhängen, etwas von Gottes Liebe abbekommen – ja, vielleicht sogar ein Wunder erhoffen: sehen können. Geheilt werden!

Merkwürdig nun die Volksmenge. Viele befahlen ihm zu schweigen. Halt die Klappe! Du störst nur! Du hältst den Zug auf! Denn alle sind in voller Bewegung, gehen und laufen - bis auf den sitzenden Bartimäus, ganz am Boden.

Und jetzt die Unterbrechung. Jesus blieb stehen. Die Zeit muss sein. Er geht aber nicht auf den Blinden zu, sondern sagt zu den Leuten: Ruft ihn her! Und siehe da: Die Leute, die zwei Sätze vorher den Blinden noch richtig ausgebremst haben (Halt die Klappe!), werden nun zu Mutmachern: Hab nur Mut, steh auf, Jesus ruft dich! Es ist, als ob etwas von Jesu Nähe inzwischen schon auf sie abgefärbt hätte. Sie gebrauchen sogar Jesu Lieblingswort: Steh auf!

An diesem Punkt kommt der Bartimäus in Bewegung. Er verlässt den Sitzplatz am Wegesrand. Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu. Und jetzt nimmt die Geschichte so richtig Fahrt auf.

Warum wirft der Bettler erst Mal seinen Mantel weg? Die Frage hat mich bei der Geschichte am meisten gereizt. Der Mantel ist wohl das Einzige, was er hat.
Damals war der Mantel mehr als nur ein Kleidungsstück. Er war auch wie ein Schlafsack. Gemütliche Betten hatten nur die Reichen. Die Ärmeren schliefen im Mantel auf der Erde, kuschelten sich dort hinein, deckten sich mit ihm zu. Das bisschen Schutz und Geborgenheit, das sie empfanden, lieferte ihnen der Mantel. Und den schmeißt Bartimäus nun weg.

Ich möchte mal vermuten, dass viele Menschen heutzutage immer noch – unsichtbar – solche Mäntel tragen. Mäntel, die uns umhüllen, die uns Sicherheit geben. Mäntel, in denen wir uns eingerichtet haben. Mäntel, die aber auch kratzen und uns einengen. Und die wir, wenn wir zu Neuem hin aufbrechen – wie Bartimäus jetzt – loslassen, hinter uns lassen, wegschmeißen können.

Solche Mäntel, solche Schutzhäute sind uns wie angewachsen. Der Mantel unserer Gewohnheiten, vor allem der negativen. Unsere Sehgewohnheiten etwa: immer gleich schwarzsehen. Oder durch die rosarote Brille. Oder andere glatt übersehen. Oder auf sie heruntersehen.

Der dunkle Mantel der Angst. Alles ängstigt. Vertrauen und Hoffnung dringen nicht durch. Das Leben ist feindlich. Keiner mag mich. Ich bin immer das Opfer. Die Welt ist ohne Erbarmen. Neue Schritte fallen schwer – wahrscheinlich geht ja doch wieder alles schief.

Der anstrengende Mantel der Perfektion. Fehler sind nicht erlaubt. Ich darf nur Spitzenleistungen bringen. Erbarmen ist etwas für Schwächlinge. Es zählt die Leistung. Es zählt der Erfolg.

Diese, sagen wir „psychischen Mäntel“ gibt es in allen Konfektionsgrößen. Leider verdeckt der Mantelkragen oft genug unsere Augen. Wir sind dann wie blind. Blind für die Wahrheit. Blind für das Leben. Und sicher auch blind für Gott.

Bartimäus lässt den Mantel fallen – und springt auf. Das ist der erste Schritt ins Neue, auf dem Weg der Heilung. Raus aus der Bettlerrolle, raus aus dem Leben als Almosenempfänger. Raus aus der Minderwertigkeit. Hin zu Gott, hin zu Jesus. Er sprang auf und lief auf Jesus zu.

Der Blinde ist immer noch blind. Aber die Lebensrichtung heißt ab jetzt: Auf Jesus zu. Und dann, schließlich: Hinter ihm her.

Der Blinde ist nicht mehr allein. Sein Weg, der ihm so grausam und sinnlos erschien, ändert sich. Er spürt Verbundenheit. Da sieht mich einer. Da schaut mich einer an. Ich bin im Blick. Im Blick Gottes.

Und Jesus fragt den blinden Bartimäus, der nun ganz nah bei ihm steht: Was willst du, dass ich dir tue? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte sehen können.

Ist doch eigentlich klar, was der Blinde will. Aber Jesus stülpt einem nichts über, er handelt nicht an der Freiheit und Entscheidung der Menschen vorbei. Auch in unserem Leben steckt die alles entscheidende Frage: Was willst du, was willst du wirklich und vor allem?

Ich höre diese Frage und versuche zu antworten: Ich möchte auch sehen können. Richtig, klar, als Christ. Nicht im Spiegel- und Selfieblick, wo es immer nur um mich selbst geht. Ich möchte Dich, Herr, erkennen in meinem Leben, dich sehen in der Welt. Und möchte meinen Platz, meine Verantwortung erkennen, ohne Angst, ohne Komplexe, ohne Überheblichkeit. Und möchte aufschauen zu dir. Der Blick auf zu dir könnte alles andere fügen – den liebevollen Blick auf die anderen. Den hoffnungsvollen Blick in die Zukunft. Den demütigen Blick auf mich selbst.

Und Bartimäus – und vielleicht auch ich und du- hören: Geh! Dein Glaube hat dich gerettet. Zumindest der Bartimäus folgte Jesus auf seinem Weg.