Wählen gehen
Predigt am 26.09.2021
In den letzten Monaten habe ich, besonders in Altena, viele Taufen mitgefeiert. Durch Corona war da ein richtiger "Stau" entstanden! Dabei merkte ich, wie mir die Fürbitten für die
neugetauften Kinder immer wichtiger werden. Sie werden vielleicht noch im Jahr 2110 leben, also in einer Welt, die wir uns gar nicht mehr vorstellen können. Was für eine Welt werden
wir unseren Kindern und Kindeskindern hinterlassen, fragt immer wieder die Kanzlerkandidatin, die selbst zwei kleine Kinder hat.
Ja, was für eine Welt? Die heutigen Wahlen haben viel mit dieser Frage zu tun. An einer Antwort kann man höchstens herumstottern! Die Welt ist so komplex, so un-übersichtlich
geworden, die Probleme kommen erdrückend auf uns zu: der Klimawandel natürlich. Der Zusammenhalt der Gesellschaft, die sich immer mehr in gegnerische Lager aufspaltet, mit dumpfen
Hassgefühlen und wenig Dialog. Dann die Pandemie und ihre Lehren und Auswirkungen. Wachsende Armut in Teilen der Bevölkerung. Eine schwierige internationale Lage: Großkonzerne,
die mächtiger scheinen als Regierungen. Zunehmend autoritäre und diktatorische Herrschaft. Abkopplung großer Regionen wie Afrika. Starke Flüchtlingsströme von Menschen,
die nirgendwo mehr zu Hause sind. Und Religion nicht mehr nur ein "Heilmittel", sondern eine große Kanne, die Öl ins Feuer gießt - wie jetzt die Taliban in Afghanistan. Die
Stimmen der Vernunft und Besonnenheit, der sozialen Gerechtigkeit und ethischen Verantwortung werden leicht überhört im Lärm der Marktschreier und der Propaganda. "Wir haben in
Ethik nur eine Sechs verdient", gestand vor ein paar Tagen der Generalsekretär der UNO, als er den fehlenden Einsatz von Impfstoffen für Afrika beklagte.
Wir haben in Ethik nur eine Sechs verdient, wir - die reichen Länder auf der Sonnenseite des Lebens. Wie aktuell ist da der Jakobusbrief in der heutigen Lesung (Jak 5,1-6): "Ihr Reichen,
euer Gold und Silber verrostet. Der Lohn, den ihr euren Arbeitern vorenthalten habt, schreit zum Himmel!" Seit den Zeiten der Bibel scheint die Menschheit in vielem stillzustehen, nicht
weiter zu wachsen zum Besseren hin - Armut gegen Reichtum ist die große Frage und Herausforderung geblieben.
Aber, Gott sei Dank, gibt es auch viele Lichtblicke! Die Hochwasserkatastrophe hat die Gefährdungen des Lebens gezeigt, aber auch die enorme Hilfsbereitschaft. In Altena bekamen wir mit,
wie neben den Nachbarn auch unbekannte Leute mithalfen, Keller leer zu pumpen oder ins Chaos wieder etwas Ordnung zu bringen. Ein gutes Signal für den Zusammenhalt der Gesellschaft! An der
Basis, sozusagen in der Nachbarschaft oder im Leben eines Stadtteils, klappt es offensichtlich doch viel besser, als die medialen Aufregungen es wahrhaben wollen. Der Tankwart in Idar-Oberstein,
der von einem Kunden erschossen wurde, weil er diesen an die Maskenpflicht erinnerte, - diese furchtbare Geschichte sollte nicht als typisch für unsere Zeit gelten.
Lichtblicke sind auch die jungen Leute, die sich engagiert für Klimaschutz und für ein menschenfreundlicheres Leben in den Städten, im Wohnen, im Verkehr und in der Arbeitswelt
einsetzen. Die materialistische Gier - Hauptsache: viel Geld verdienen! - ist ihnen fremd. Da ist oft so viel Phantasie am Werk, so viel Freude am Ausprobieren - vor allem eine starke
Ausrichtung auf die Zukunft. Und das ist die richtige und wichtige Blickrichtung, auch für uns Christen. Die Zukunft! Der Raum, den Gott uns zur Gestaltung überlässt. Das
Herumwursteln nur in der Gegenwart oder das Verhaftet-Sein nur in der Vergangenheit hilft nicht weiter. Auch nicht der Kirche.
Liebe Schwestern und Brüder, jetzt sind wir hier in der Messe, in der Kirche. Gleich danach dürften viele zur Wahl gehen. Also: die letzten Worte vor der Wahl sind Worte des Glaubens!
Auch Gebetsworte. Sie bringen unsere ganz reale Welt und ihre Zukunft hin zu Gott, dem Schöpfer. Aber wir ahnen: Er, Gott, schwingt nicht den Zauberstab. Es reicht nicht zu beten: Gott,
stopp doch bitte den Klimawandel. Gott hat uns die Schöpfung treuhänderisch anvertraut. Wir fühlen uns oft so ohnmächtig, gerade als Einzelne, und wissen doch: Die Dinge
entwickeln sich zum Guten nur durch richtiges menschliches Handeln - durch eine Ethik, die die Nächstenliebe und das Füreinander großschreibt, gerade auch in der Politik und
Gesellschaft.
Vor ein paar Tagen hieß es in der Lesung aus dem Propheten Haggai, einem ganz kleinen Buch des Alten Testaments: Der Herr spricht zum Volk: Überlegt doch, wie es euch geht. Ihr
sät viel und erntet wenig, ihr esst und werdet nicht satt, ihr zieht Kleider an, aber sie halten nicht warm. (Hag 1,1-8). Überlegt doch, sagt Gott, wie es euch wirklich geht. Denkt
nach. Seid ganz wach im Blick auf die Welt. Wählt - das Leben, nicht den Tod. Nicht die Todesmächte. Nicht den Mammon. Nicht die Gewalt. Nicht das "Da kann man doch eh nichts machen!"
Und niemals die Gleichgültigkeit. Ihr habt die Wahl!
Was wir aus der Kirche, von der Frohen Botschaft her, mitnehmen können, ist das Beispiel eines Menschen, Jesus: Er war alles andere als selbstbezogen, er ging hinaus zu den Menschen. Auf
die bezog er sich - und auf seinen Vater, Gott. Jesus kreiste nicht um sich selbst, sondern diente den anderen und setzte sein Leben ein, um Gott - seine Liebe, Weisheit und Sicht auf die Welt -
zu verbinden mit uns Menschen. Um uns zusammenzubringen. Und uns zu verankern in ihm.
Wer daraus lebt und handelt - ja, gerade auch in Richtung Politik und Gesellschaft -, der hat die beste Wahl getroffen.