Die Wunden der Welt berühren

Predigt am 11.04.2021

In Prag, in Tschechien, ist der Priester Tomas Halik weithin bekannt. Wenn er seine Messen für Studenten hält, dann stehen die Leute bis auf die Straße. Jetzt in der Coronazeit – ohne Messen – denkt er darüber nach, was Gott uns durch diese Abwesenheit sagen könnte. Halik hat nie den Glauben als „Komfortzone“, als beschauliche und bequeme Tradition des Volkes erlebt. Als er ein junger Soziologiedozent war, in den kommunistischen Verfolgungszeiten der 70er Jahre, ließ er sich heimlich zum Priester weihen – die Machthaber von einst durften das auf keinen Fall erfahren. Er feierte Gottesdienste und hielt Glaubens- und Gesprächsabende in Wohnungen, im kleinen Kreis. Heimlich! Besonders war und ist er da für Menschen, die suchen, die geistig noch nicht wissen, wohin. Für sie ist der Soziologe, Theologe und Philosoph ein Begleiter, ein guter Mitgeher. Durch seine Bücher und Vorträge kennt und schätzt man ihn auch in Deutschland und in ganz Europa. Bei ihm darf man als Glaubender zweifeln und mit lauter Fragezeichen leben. Verständlich, dass Halik eine besondere Schwäche für den Apostel Thomas hat, den Skeptiker und angeblich „Ungläubigen“. Verständlich auch, dass er in seinem Land Tschechien, das ähnlich entchristlicht und entkirchlicht ist wie damals die DDR, am Dialog interessiert ist mit allen, die reden wollen – und sich mit dem Materialismus der Gesellschaft nicht zufriedengeben. Verständlich auch, dass die Zukunft der Kirche für ihn nicht die Rückkehr in eine „heile“ Vergangenheit ist, sondern eher die „kleine Herde“. In ihr, so hofft er, wird der ansonsten in der Kultur vergessene und verschwiegene Gott noch mit Mut und Freude und Lust am Gespräch verkündet und „gelebt“.

In seinem neuesten Buch „Die Zeit der leeren Kirchen“ erzählt Halik, wie er auf einer Vortragsreise nach Indien das Grab des Apostels Thomas in Madras (Südindien) besuchte. Bis dahin hatte er unser heutiges Evangelium so verstanden, dass Jesus durch sein Erscheinen den skeptischen Apostel von der Realität der Auferstehung überzeugt hatte. So ähnlich begreifen wir die Geschichte wahrscheinlich auch: Der zweifelnde und auf Beweise hoffende Thomas, der der Sache auf den Grund gehen will, kann angesichts des Leibes Jesu mit seinen Wundmalen gar nicht anders als „glauben“.

Halik wird nach dem Besuch des Thomasgrab in ein nahe gelegenes Waisenhaus in Madras geführt. Und nun zitiere ich seine Eindrücke:

Es war ein erschütterndes Erlebnis. In Bettchen, die an Geflügelkäfige erinnerten, lagen kleine verlassene Kinder und schauten mich mit fiebrigen Augen an. Die schlechte Luft nahm mir den Atem. Inmitten des Gestanks und des Weinens dachte ich an ein Wort von Dostojewski in seinem Roman „Die Brüder Karamasow“, wo man Gott die Eintrittskarte in eine Welt zurückgeben wollte, in der Kinder leiden müssen. Aber gerade in dem Moment tauchte in mir der Satz aus dem Evangelium auf: „Berühre die Wunden!“ Auf einmal erschloss sich mir die Geschichte von Christus und Thomas neu. Jesus identifizierte sich mit allen Kleinen und allen Leidenden – deshalb sind alle schmerzenden Wunden der Menschen die „Wunden Christi“. Es reicht nicht, nur „Herr, Herr“ zu rufen – ich muss diese seine Wunden berühren, von denen unsere Welt so überaus voll ist. Dort in Madras, in Indien war es für mich auf einmal ganz klar: Ich habe nicht das Recht, Gott zu bekennen, wenn ich den Schmerz und das Elend der Menschen, z.B. dieser Kinder im Waisenhaus nicht ganz ernst nehme.

Christus, der Auferstandene, trägt weiter die Wundmale und Narben. Er lebt weiter in dieser Welt. Woran ist er zu erkennen? Der Evangelist Johannes hält die Wunden der Menschen – und nicht bloß die Sakramente der Kirche – für die Türen, durch die man zu Christus gelangt. Ähnlich heißt es ja bei Matthäus in der Rede Jesu vom letzten Gericht: „Was ihr einem der geringsten und wirklich armen Menschen getan habt, das habt ihr mir getan!“

Christus in den Wunden der Welt. Es wird erzählt, dass die Kirche dem französischen Denker Blaise Pascal im 17. Jahrhundert die Rechtgläubigkeit abgesprochen hat; für eine gewisse Zeit wurde er von der Eucharistie ausgeschlossen. Da nahm er in seinem Haus einen Kranken auf, um ihn selber zu pflegen. Er wollte auf diese Weise wieder „den Leib Christi empfangen“ – mit dem verwundeten, vernarbten Leib des Herrn in Kontakt sein. Eine ähnliche Geschichte gibt es vom heiligen Martin, der ja schon in der Mantelteilung seine Nähe zu den Armen gezeigt hatte. Einmal soll ihm der Satan in der Gestalt Christi erschienen sein. Der Heilige ließ ich davon aber nicht täuschen. „Wo hast du deine Wunden?“, fragte er.

Wahrscheinlich gibt es viele Menschen, die nicht an Gott glauben können oder wollen, weil das Leiden in der Welt so stark ist, und weil es so viele offene Wunden gibt. Man kann es aber auch umgekehrt sehen: nämlich, dass dieses unermessliche Leiden in der Welt den Durst und die Sehnsucht nach Sinn, nach Gott hervorrufen kann.

Dieser Gott steht nicht über dem Leiden. Er ist kein unbeteiligter, unbewegter Zuschauer des Weltspektakels. Er ist kein apathischer, sondern sympathischer Gott: mit-fühlend, mit-leidend. Barmherzigkeit – ein großes Herz – ist sein Erkennungszeichen. Und so tritt Jesus ein in unsere Welt: der Mensch der Liebe schlechthin. Er sieht die Wunden der Menschheit und spürt: Jeder Mensch trägt seine Wunden und Narben, aber kaum einer will sie zeigen. Ein großes Versteckspiel ist im Gang. Jeder bleibt allein damit, mit seiner Schuld, mit seinen Enttäuschungen. Und Jesus geht hinein ins Leiden, ans Kreuz, und trägt alles mit. Selbst in seinem neuen österlichen Leben bleiben die Wundmale. Sie sind wie Pforten, wie Öffnungen – wo sich doch sonst alle panzern und abschotten. Durch seine Wunden, durch seine „dünne Haut“ scheint die Liebe durch. Und trifft uns vielleicht ins Herz. Nicht durch unsere Stärke, sondern – eher – durch unsere Wunden hindurch.