Trotzdem

Weihnachtspredigt 2020

Ich weiß nicht, wie Weihnachten 1944 war. Vielleicht so: Der Vater in Russland, in Hitlers Krieg. Er hat aus dem Feld geschrieben: „Wir wollen auf die Krippe schauen. Wir wollen Hoffnung haben.“ Die Großeltern, ausgebombt, wohnen jetzt mit im Schlafzimmer. Alle sind sehr zusammengerückt. Die Kinder freuen sich auf das Ge-schenk: neue Strümpfe, von der Oma gestrickt. Die Mutter zaubert mit viel Phantasie aus dem Wenigen, was da ist, Leckeres. Die Bomben machen Pause, für ein paar Tage. Dann geht der Krieg wieder richtig los. Und dieses höchst bescheidene Weihnachtsfest gibt Kraft, die aus verschiedenen Quellen kommt: aus dem Zusammenhalt, aus dem Feiern – und ganz gewiss aus dem Glauben. Ein großes TROTZDEM schwingt da durch die Räume – TROTZDEM - nicht aus Trotz, sondern aus Hoffnung! Wir leben weiter, trotz allem. Es wird besser. Gott geht mit uns. Trotz allem.

Ich kenne den Krieg nur vom Hörensagen. Danach, in den langen Jahrzehnten friedlicher Normalität, wurde Weihnachten das Lieblingsfest Nummer Eins für das ganze Land. Es ruft bei den meisten starke Gefühle wach: Geborgenheit, Harmonie, Freude am Fest. Dafür stehen z.B. die illuminierten Fenster, Balkone und Zäune in den dunklen Straßen. Die Leute sagen fast immer: Weihnachten ist das Fest der Familie, des Friedens und der Liebe. Vom Kind im Stall und der Menschwerdung Gottes sprechen noch die eher kirchennahen Christen. Und so verschwand das große TROTZDEM – eine Hoffnung, die sich „durchbeißen“ muss durch widrige Verhältnisse.

Jetzt ist es wieder da, das große TROTZDEM. Es ist zurückgekehrt, im Windschatten von Corona. In den meisten Grüßen und Briefen, die ich bekomme, steht sinngemäß: Frohe Weihnachten – TROTZ ALLEM! Trotz aller Beschränkungen und Abstände.

In diesen Zeiten ist es so, als würden wir durch eine neue Brille in die Welt sehen. Der Schock sitzt tief. Eine Bedrohung hat sich breit gemacht, mit der wir kaum gerechnet hätten. Wir spüren, wie „zerbrechlich“, wie angeschlagen das Leben ist, überall auf der ganzen Welt. Dabei kamen wir uns mit all dem Fortschritt so stark vor, fast unverwundbar. Und viele denken nun: Die alte Normalität ist vorbei. Die kommt nicht zurück. Wir werden in vielem umdenken. Etwas Neues entsteht. Vielleicht in vielem etwas Besseres. Wir können es noch nicht genau erfassen. Aber es wächst – und das kann sehr spannend werden!

Der Apostel Paulus kannte dieses Lebensgefühl schon vor zweitausend Jahren. Die ganze Welt seufzt wie in Wehen, schrieb er im Römerbrief. Und wartet auf Erlösung.
Nun, wir warten zunächst auf hilfreiche Impfstoffe. Mit denen geht es ja bald los! Aber damit ist zumindest meine Erwartung nicht erschöpft. Ich hoffe auf mehr. Zum Beispiel auf eine wachsende Solidarität. Wenn Menschen gefährdet sind und herausgerissen aus der Sorglosigkeit, achten sie – hoffentlich – mehr aufeinander, empfinden tiefer füreinander, verstehen die Nöte. Sie werden nachdenklicher, und was ihnen bis jetzt ganz wichtig erschien (etwa materielle Güter), kann an Bedeutung verlieren. Andere Spitzenwerte schieben sich nach vorn – andere Prioritäten. Vielleicht: mehr Zeit füreinander. Corona zwingt uns geradezu zur Entschleunigung, zur Besinnung. Corona macht Fragezeichen hinter dem Gewohnten und Selbstverständlichen.
Ja, die Welt 2021 dürfte eine andere sein.

Und jetzt: Weihnachten. Ich empfinde deutlicher als sonst die „dunkle Nacht“ und den „kalten Winter“ in der Geschichte von Bethlehem. Die dunkle Nacht, die besonders auf den armen Ländern und Menschen lastet. Bethlehem – das ist keine behagliche Geschichte! Aber in dieser nächtlichen Finsternis strahlt ein Licht! Wo sonst kann man das Licht so deutlich sehen, wie in der Dunkelheit, in den düsteren Phasen des Lebens?

Das Licht! „Christ, der Retter ist da,“ singen wir - im beliebtesten Weihnachtslied, von der „stillen, heiligen Nacht“. Christus, der Retter. Er ist da! Der Messias, der Heiland, der Heilbringer. Der die Wunden der Welt heilen will.

Corona rückt die Gesundheit in die Mitte. Sie wird zum entscheidenden Gut. Virologen und Epidemiologen sind die Propheten und die Weisen dieses Jahres. Vielleicht dürfen wir Christen sie ergänzen? Denn der Glaube hat einen tiefen Sinn für die Viren, die seit den ersten Tagen der Menschheit die Welt heimsuchen, sozusagen seit Adam und Eva. Was für ein mörderischer Cocktail ist das – diese Flut an Viren des Unheils, die durch die Geschichte schwappt: die Habgier, die Aggression und Gewalt, der Hass, die Geringschätzung und Ausbeutung der anderen, der Missbrauch, die Hochkonjunktur der Lüge. Die Liste des Unheils ist abgrundtief lang – auch bei uns in den eigenen Reihen.

Dunkle Aussichten! Aber da kommt das Licht und leuchtet das Dunkle aus. „Mit seinem hellen Scheine vertreibt's die Finsternis“, heißt es im Weihnachtslied. Ein Kind, ein Baby ist zu sehen – wehrlos, gewaltlos, immer freibleibend vom Virus, vom Bazillus des Bösen. Ein Bild, wie Gott sich den Menschen gedacht hat.

Schauen Sie sich einmal das Bild „Christus, der Medicus“ an. Vor allem in der Barockzeit wurde Christus als Arzt oder Apotheker dargestellt. In vielen alten Klosterapotheken ist er zu finden; hinter seiner Theke rührt er die Pharmaka, die Arzneien und Medikamente an – seine Heilmittel. Natürlich teilt er nicht Aspirin oder Valium aus – ganz gewiss kein Schlafmittel! Eher Aufweckmittel: Er will uns aufwecken zum Leben, zum „Leben in Fülle“, zum Leben in Wachheit. Oder Aufbaumittel: damit Gemeinschaft sich aufbaut und Menschen aus ihrer Isolation herauskommen. Abwehrmittel: um den Viren des Bösen, der Gewalt, des Hasses und der Ungerechtigkeit zu widerstehen. Um immun zu werden gegen sie. Ja, auch Abführmittel bietet er an – damit der Ballast, der Müll und „Mist“ unser Leben verlässt. Und natürlich herzstärkende Heilmittel, damit wir uns von den Kräften des Herzens leiten lassen – von Treue, Verzeihen, Dankbarkeit und Freude. Und Masken gibt es jetzt auch bei ihm, damit Leben geschützt und gerettet werden. Das ist sicher in seinem Sinn!

In der göttlichen Apotheke wird das alles nicht verkauft – sondern verschenkt. Der Medicus Christus verschenkt sich selber in seinen Heilmitteln. Er gibt sich hin – an uns. Und diese Hingabe, die im Kreuz gipfelt, beginnt in der Krippe. In der Armut des Stalls. In einer Nähe zu den Menschen, - gerade zu den Armen -, die er immer gelebt hat. Unsere jetzigen Abstandsregeln können ihn nicht aufhalten. Seine Nähe ist da, auch wenn wir bald keine Messe mehr feiern können und jetzt hier in der Kirche uns sehr bremsen müssen. Christ, der Retter ist da! Gerade jetzt. Trotz allem!