Englischer Besuch

Predigt am 20.12.2020

Hausbesuch bei Leuten meines Alters, vor kurzem. „Höchstens halbgläubig“, wie sie sagen. „Herr Pastor“, fragt der Ehemann mittendrin, „glauben Sie wirklich daran – an die Jungfrauengeburt? Dass Maria ohne Zutun eines Mannes schwanger wurde?“

Die Frage begleitet mich schon, seit ich Theologie studierte. Wie soll das denn gehen, fragten immer wieder Leute. Und was bedeutet das eigentlich – was soll damit ausgedrückt werden?

Ich versuche wie folgt zu antworten:
Stellen Sie sich eine Biografie vor, eine Lebensbeschreibung. Ich lese gerade ein sehr dickes Buch, die Erinnerungen von Präsident Barack Obama. Er denkt immer wieder darüber nach, wie sich seine Hautfarbe und seine ungewöhnliche Familiengeschichte (der Vater abwesend in Kenia, die Mutter alleinerziehend in Hawaii und Indonesien) auf ihn ausgewirkt haben. Denn das sind ja ganz entscheidende Faktoren eines jeden Lebens: Welche Gene trage ich in mir? Welche Rolle spielen meine Vorfahren, Eltern und Großeltern? Wie ist mein Umfeld, in welche Kultur und Mentalität und soziale Schicht bin ich hineingeboren? Wie hat man mich erzogen? Biografen gehen sehr auf solche Gesichtspunkte ein und versuchen, ihren „Helden“ von daher zu verstehen.

Wie sollten die Evangelisten nun Jesus beschreiben? Ihn, den Unbeschreiblichen? Sie waren Zeugen der Auferstehung und vorher eines ganz ungewöhnlichen Le-bens gewesen. Wurde dieser Messias verständlich von seinem Elternhaus her? Nach dem Motto: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“? Oder von Nazareth her, diesem kleinen Kaff, wo er aufwuchs und vermutlich seine Jugendfreunde hatte? Oder vom Milieu her der jüdischen Handwerkerfamilien? Auf jede solcher Fragen antworteten die ersten Christen mit einem deutlichen „Nein!“ Nein, so ist Jesus niemals zu verstehen. Er war nicht ein Produkt aus Genen, Erziehung und Umwelt. Er sprengte das alles. Wie ein Komet platzte er in diese Welt hinein, unableitbar, so nie dagewesen, staunenswert. Ein Geheimnis. Im Klartext: Nur von Gott her verständlich. Das Musical „Ave Eva“ bringt es auf den Punkt: Einen Vater, der ein solches Kind hätte zeugen können, gibt es nicht unter den Vätern der Menschen.

Denken Sie an den zwölfjährigen Jesus im Tempel. Er verblüfft alle, die ganze hochgelehrte Welt, mit seinen Einsichten. Kein Wunderkind wird da gezeichnet, so wie sie heutzutage in der Fernsehshow „Klein gegen groß“ von Kai Pflaume vorgeführt werden. Jesus ist da kein Stubenhocker, der einfach zu viel in den heiligen Schriften herumstudiert hat. Er deutet sich selber: „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“ Immer stößt man also auf sein Geheimnis: von Gott her zu kommen, von ihm her zu leben, „sein Sohn zu sein“.

Wenn einer so in Gott endet, in der Auferstehung, wie mag dessen Leben begonnen haben? Ähnlich wunderbar, glaubt zum Beispiel der Evangelist Lukas. Aber nicht die biologischen Umstände von Zeugung und Geburt Jesu sind das Wunder, auf das sich nun die Neugierde stürzt – sie sind eher wie ein Bild, um zu sagen: Er selbst, Jesus mit seinem ganzen Leben, ist das Wunder, vom Anfang bis zum Ende. Vom ersten bis zum letzten Tag. Sein Wesen ist, von Gott her zu kommen. Der Zimmermann Josef in dem kleinen Kuhdorf Nazareth nimmt sich bescheiden zurück – er kann den Schlüssel zu diesem Menschen Jesus nicht liefern.

Und Maria? Da ist es ganz anders. Gott braucht sie. Denn sein Sohn soll wirklich Mensch werden, einer von uns. Nicht eine verkleidete Gottheit, die auf Besuch kommt. Wirklich Mensch mit allem Drum und Dran! Wirklich geboren, wirklich real. Dazu braucht er die Mutter. Und er braucht ihre Freiheit. Sie kann Ja oder Nein sagen zu der Zumutung Gottes. Und es ist ja wirklich eine Zumutung für ein junges unverheiratetes Mädchen, Mutter zu werden. Was sollen die Leute denken? Wir wissen, dass Maria – Gott sei Dank – Ja gesagt hat: „Siehe, ich bin eine Magd des Herrn. Mir geschehe nach deinem Wort!“ Sonst wäre der Weg Gottes zu den Menschen schon im ersten Anlauf gestoppt gewesen.

Wie oft ist die Szene mit Maria und dem Engel Gabriel schon dargestellt worden! Engelsbesuch – das bedeutet: Maria hat sich die göttliche Geburt nicht ausgedacht. Die Evangelisten auch nicht. Der Engel kommt mit höchster Autorität – als Stimme und Sprachrohr und Bote Gottes. Er dringt ein in das Zimmer von Maria.

So kommt Gott. Und spricht, redet uns an, schweigt nicht länger. Nicht im Tempel, auf dem Berg, in der Wüste, an irgendwelchen heiligen Orten. Nein, zuhause. Im Alltag, sozusagen in der Küche. Im eigenen Leben. Und so kann er auch heute zu uns kommen, selbst mitten in der Pandemie – durch alle Masken und Hygienekonzepte hindurch – und uns etwas sagen, während wir am Schreibtisch sitzen oder am Herd stehen. Der Künstler Joseph Beuys hat das sehr schön ausgedrückt: „Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt.“ Ähnlich eine andere Mystikerin, Teresa von Avila: „Gott ist gegenwärtig, auch zwischen Kochtöpfen.“ Ungeahntes kann da mit einem passieren – so wie in manchen Flashmob – Szenen mitten unter Marktständen oder im Stern-Center oder eben im Bahnhof ganz plötzlich und völlig unerwartet ein Tenor eine wunderbare Arie aus einer Oper singt – und ein ganzer Chor einstimmt. So unerwartet kann in uns etwas wach werden und aufstehen und „singen“, was Gott uns sagen will. In der Regel ist es so: Er gibt, und wir empfangen. Wir hören es vielleicht mit Zögern, mit Unverständnis, mit Erschrecken – wie Maria. „Sie erschrak über die Anrede und dachte nach, was der Gruß zu bedeuten habe.“ Auch sie brauchte Zeit, um alles zu verarbeiten. Was ihr half: Sie war in ihrem Herzen, in ihren Sinnen, in ihrem ganzen Wesen „auf Empfang“ und „auf Sendung“ eingestellt. Ihre eigenen Zukunftspläne und Absichten blockierten sie nicht. Sie war bereit, mit Gott zusammenzuarbeiten. Auch als der Engel sie verließ und nicht mehr zu sehen und nicht mehr zu spüren war, ging sie ihren Weg mit Gott – auch durch alle Dunkelheiten, bis hin unters Kreuz. Sie tat es, damit Jesus, der Keim einer neuen Welt, Gestalt annehmen konnte, Hand und Fuß bekam.

Das, was Maria da tat, nennen wir Glauben. Eine Offenheit für den Engel und die Stimme Gottes. Ja sagen zu seinem Auftrag für mein Leben. Trotz aller Fragen und Zweifel und Schwierigkeiten dabeibleiben. Und so Jesus, dem Christus eine Gestalt zu geben in unserem Leben. Ihm unsere Hand und unseren Fuß zu leihen, damit er wirken kann, 2021.