gott gerneklein

Adventsimpuls am 13.12.2020

1

Kurt Martis Gedicht

Kurt Marti war ein evangelischer Pfarrer und Schriftsteller in der Schweiz. Er starb 2017 im Alter von 96 Jahren. In seinen Gedichten kommt er oft mit wenigen Worten aus. Ein ganz kurzes Gedicht ist weihnachtlich:

MENSCH GERNEGROSS
gott gerneklein

Ja, so ist das – wie in der Schrift.
Das ist die Realität:
Der Mensch schreibt sich selber sehr groß.
Und er schreibt Gott eher klein.
Er weiß mit ihm so recht nichts mehr anzufangen.
Aber merkwürdig:
Gott will sich selber gerne klein schreiben!
Der Mensch liebt den Aufstieg, die Größe.
Und Gott sucht den Abstieg, die Kleinheit.
Er ist auf dem Weg zur Welt, zu uns.
Das ist – sehr kurz gesagt –
die Botschaft von Weihnachten.



2

MENSCH GERNEGROSS

„Na, du Gernegroß!“
So werden Kinder manchmal angesprochen.
Ich war auch ein Gernegroß.
Mit sechs Jahren wollte ich eine Brille haben,
wie mein Vater, vor allem wie mein Lehrer.
Ich wollte möglichst schnell lesen lernen –
Eintrittskarte in die Welt der Großen.
Später: die erste (und einzige!) Zigarette –
Welt der Großen.
Das erste Glas Wein: Welt der Großen –
Dazugehören.
Bloß kein Kind mehr sein –
Bloß nicht mehr hören: „Na, mein Kleiner ...“
Gernegroß.

Ich war nicht allein damit:
Die Menschheit ist so.
Ist den Kinderschuhen entwachsen.
Will gerne übergroß sein –
neigt zur Großmannssucht.
Erster sein, Größter sein –
Sieger sein.
An der Spitze stehen.
Wachstum in der Wirtschaft
um jeden Preis,
im Ansehen und der Macht
ganz vorne liegen,
im Ranking gut wegkommen,
den anderen immer
eine Nase voraus:
Mensch gernegroß.



3

Magnificat (frei übersetzt)

Und Maria sprach:
Meine Seele spricht groß von Gott.
Loben und preisen will ich ihn.
Er ist mein Retter, mein Herr.
Er hat mich im Blick –
mich, die niedrige Magd.
Großes hat Er an mir getan.
Allen, die ihn lieben und fürchten,
gilt sein Erbarmen,
quer durch die Zeiten.

Er zerstreut die Stolzen,
die im Herzen voll Hochmut sind,
und stößt die großen Herren vom Thron.
Die Kleinen und Niedrigen hebt er empor
und richtet sie auf.
Die Hungrigen sättigt er doppelt,
die Reichen schickt er
mit leeren Händen davon.
Er nimmt sich seines Volkes an
(– so klein und schwach unter den Völkern –)
und macht es zum Zeichen seines Erbarmens.



4

Turmbau nicht nur in Babel (frei nach Kurt Marti)

Und die männer sprachen:
Auf, lasst uns eine stadt bauen
und darin einen turm
der aufragt bis zum himmel!
Er soll sein ein triumphzeichen
Unserer herrschermacht über die ganze welt!

Und die Christen sprachen:
Auf lasst uns eine weltkirche errichten
Die urbi et orbi bezeugt
Dass wir es sind
Die die Wahrheit besitzen
Und das letzte wort haben

Und die führer der großen konzerne sprachen:
Auf lasst uns eine wirtschaftsmacht planen
Von einem ende des himmels zum andern!
So werden wir uns einen namen machen
Und niemand mehr wird der macht
Des globalen markts widerstehen!

Und die forscher und wissenschaftler sprachen:
Auf lasst uns fabriken und laboratorien bauen
Wo der fortschritt allein als gesetz gilt
Den keine vorschriften kleinlich behindern!
So werden wir das leben in den griff bekommen
Bis in die zell- und atomkerne hinein!

Und die normalverbraucher sprachen:
Auf lasst den fortschritt
Nur unentwegt weiter fortschreiten
damit er den erdball noch mehr erschließe
und dessen enorme ressourcen noch besser
für unseren konsum verfügbar mache!

Da aber fuhr jahwe, fuhr gott hernieder
Um zu beschauen
Was die menschen da planten und trieben
Und ihre gemeinsame sprache ging durcheinander
Und sie alle wurden zerstreut
Und ein großer baustopp begann
Sie hörten auf weiter zu bauen.



5

Philipperhymnus (Phil 2, 5-11, frei nach Huub Oosterhuis)

Jesus, der Menschensohn,
Bild Gottes, Bild der Liebe –
Er hat nicht Macht begehrt,
wollte nicht auf die Throne.
Er hat sich dem Geist dieser Welt
nicht unterworfen.
Hat nicht, raubsüchtig,
nur für sich selbst gelebt,
sondern hat, was ihm gehörte, abgelegt,
sich ausgekleidet, sich weggegeben

und ist den Weg gegangen
ganz nach unten
in die Finsternis hinein.
Und ist nicht umgekehrt auf halbem Weg,
sondern den ganzen Weg gegangen.
Ist auf dem Sklavenmarkt der Welt gelandet:
Der geringste Mensch.
Er zog das Leiden an
und trug es wie ein Lamm
und ließ sich schlagen für andere
und ließ sich überhäufen
mit Last und Schande,
damit viele freikommen sollten.
Und stand stumm
vor seinen Henkern
und wurde hingerichtet wie ein Sklave.
Er hat den letzten Platz der Welt gesucht:
den Platz am Kreuz.

So ist er Mensch geworden, ein Gerechter,
und dies wurde sein Name:
Jesus Menschenkind,
Bild und Gleichnis Gottes,
der lebt und Liebe ist.
Freund Gott,
der Erste und der Letzte.
Unser lieber Herr.



6

gott gerneklein

Wie dir das gegen den Strich geht, Gott:
Der Größenwahn.
Wie die Liebe sich weigert,
die Größe und Stärke zu bewundern.
Wie es ihr graust,
die Macht zu verherrlichen.
Sie hat genug damit zu tun,
die Schwachen aufzurichten.
Der Gernegroß lässt sich nicht helfen.
Auch nicht erlösen.
Am liebsten leistet er alles selber.
Die Leiden und die Wunden
– bei sich und anderen – stören nur.
Die Corona-Zeiten sind
wie eine Kränkung für ihn.
Das lahm gelegte Leben
kann er nicht verdauen.
Er muss das Warten lernen.

Der gott gerneklein
wartet auf uns.
Er ist so leicht zu übersehen.
Nur 50 cm im Zentimetermaß –
Babygröße!
In der Krippe
lässt er sich anschauen –
und vielleicht in jedem Kind.
Er gibt uns Grund,
sehr viel zu überdenken.
Und dann
mit Herzen zu feiern –
weil im Kleinen
und Unscheinbaren
das ganz Große atmet.



7

Segen

Seid gesegnet und behütet.
Seid bewahrt vor der
Großmannssucht.
Seid gestärkt in der Demut,
die das Kleine nicht scheut.
Und vor allem: Seid geliebt –
gerade jetzt in der Zeit
der fehlenden Umarmung.
So segne euch
der sich klein machende Gott-
der Vater und der Sohn
und der heilige Geist. Amen.