Plädoyer gegen das Vergraben

Predigt am 15.11.2020

Worauf kommt es im Leben eigentlich an? – Das Kirchenjahr geht zu Ende, und in diesem Endspurt kommt uns der Evangelist Matthäus mit großen Gleichnissen. Sie stellen uns alle vor die Frage: Worauf kommt es wirklich an im Leben? Mehr oder weniger bewusst stellen wir uns wohl alle diese Frage. Wahrscheinlich nicht so, dass wir uns darüber den Kopf zerbrechen, sondern durch unsere Weise zu leben: dies zu tun und das zu lassen. Die Antwort unseres heutigen Gleichnisses geht so: Es kommt im Leben darauf an, dass Du Dir selber vertrauen kannst, indem Du diesem Gott, und sonst niemandem, grenzenlos vertrauen lernst.

Aber so weit sind wir noch lange nicht. Dieses Evangelium liegt nicht jedem! Der amerikanische Autor und Franziskanerpater Richard Rohr schreibt z.B.: „Ich habe diese Geschichte nie leiden können. Ich bin in den USA in eine katholische Schule gegangen, und am ersten Schultag pflegten uns die guten Nonnen erst einmal diesen Text vorzulesen. Und dann hat der Priester eine Predigt darüber gehalten und uns ermahnt, gute und fleißige Schüler zu sein und Einser und Zweier zu schreiben und keine Vierer und Fünfer. Wir sollten so sein wie der erste und zweite Die-ner in der Geschichte – aber bloß nicht wie der dritte Mann. Deswegen hat mir dieses Gleichnis nie gefallen!“

Das Schicksal des dritten Dieners kann einen in der Tat erschrecken – der da, der sein Talent vergraben hat, wird „in die äußerste Finsternis“ geschmissen, wo man nur „heulen und mit den Zähnen knirschen kann“. Und auch die nächsten Sätze sind heftig und unerhört: „Wer hat, dem wird gegeben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat.“ – Ja, was hat der dritte Diener denn Schlimmes verbrochen, dass er so fürchterlich behandelt wird? Er hat sein Talent – das, was er im Leben mitbekommen hat – sorgfältig behütet, vergraben und dann feinsäuberlich zurückgegeben. Vergraben. Wie Leute das auf dem Land im Kriegsfall machten: das Familiensilber vergraben, damit es nicht den feindlichen Truppen in die Hände fällt. Und dafür dann dieses vernichtende Urteil?

Stellen wir uns mal auf die Seite des dritten Dieners, kommen wir ihm zu Hilfe wie ein Verteidiger! Geht es wieder gegen die Kleinen? Ist es denn eine Kunst, mit dem Vierfachen, Fünffachen ausgestattet wie die anderen Diener, damit große Geschäfte zu machen, im Bankgeschäft auf Risiko zu setzen, auf kühne Aktien wie Wirecard, und den großen Reibach zu machen? Werden jetzt also auch bei Jesus die Tüchtigen und Erfolgreichen gepriesen? Warum diese Härte gegen den Dritten? Wahrscheinlich traut er sich eh nichts zu. Die Angst ist ihm in die Wiege gelegt; er muss darum „auf Nummer Sicher gehen“. Wo bleibt das Verständnis für die vielen, die ähnlich gestrickt sind? Die nirgendwo glänzen, die sich immer bedeckt halten, die nie eine Gelegenheit haben, wirklich etwas zu wagen? Die also werden ins Ge-fängnis und in die äußerste Finsternis geworfen? Menschen, die nicht schlecht und gemein sind, sondern nur: ängstlich, risikoscheu, schwach in ihrem Selbstbewusstsein?

Halten wir an mit diesen Fragen. Wenn wir uns in den dritten Diener wirklich hineinfühlen, erst dann werden wir ahnen, warum Jesus mit diesem armen Kerl so heftig ins Gericht geht. Was dieser dritte Diener braucht – und wir alle brauchen –, das ist mit einem Wort gesagt: Vertrauen.

Alfred Delp hat einmal gesagt: „Lasst uns dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt.“ Dieser Mann hat das ausgerechnet 1944 gesagt, als Deutschland in Ruinen fiel. Die Nazis hatten ihn, den Jesuiten und Widerstandskämpfer Alfred Delp, auch „in die äußerste Finsternis“ geworfen, er konnte sich seine baldige Hinrichtung ausmalen – und dann dieses unglaubliche Vertrauen! Ganz ähnlich wie sein Kollege, Dietrich Bonhoeffer, mit seinem Gefängnislied „Von guten Mächten wunderbar geborgen ...“

Dieses Vertrauen fehlt dem Mann im Gleichnis völlig. Das Problem ist nicht, dass er weniger Talente hat als die anderen. Das Problem ist, dass er diesem Gott – und um den geht es auch hier voll und ganz – nicht vertrauen kann. In diesem dramatischen Gleichnis sagt Jesus: Schielt doch nicht auf die anderen, die vielleicht mehr abbekommen haben als ihr! Vergleicht euch erst gar nicht mit ihnen. Hört auf, euer Schicksal zu bejammern, das euch weniger zugedacht hat. Fangt doch endlich an, in Ruhe mit dem umzugehen, was euch mitgegeben wurde. Fangt an, euer eigenes Leben zu leben. So gut ihr könnt: euer eigenes Leben zu leben! Und bei all dem brauchen wir keine Angst zu haben vor diesem Gott, sondern wir sind eingeladen, ihm zu vertrauen. Er hat dich geschaffen, einmal und einmalig unter sieben Milliarden Menschen. Er wollte dich genauso haben, wie nur du allein in deinem Wesen bist. Eines Tages wirst du ihm sein Leben wieder zurückgeben, und du wirst keine äußerste Finsternis und Verlorenheit schauen – wenn du nur das Vertrauen gelernt hast!

Hätte dieser dritte Diener alles Schlimme im Leben getan, hätte er alle seine Talente verloren, verschleudert, kaputt gemacht, wäre er mit absolut leeren Händen zurückgekommen – ich bin überzeugt: Gott hätte ihn dennoch in die Arme genommen. Wenn er nur vertraut hätte – wie in dem anderen Gleichnis vom verlorenen Sohn.

Angst macht eng. Vertrauen macht weit. „Lasst uns dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt.“ Lasst uns das Leben wagen – mit allen Risiken, mit allen Gefahren. Ohne ständig auf Nummer Sicher zu bleiben. Denn Gott lebt es mit uns!