Wohl denen, die gelebt, ehe sie starben

Predigt am 09.098.2020 - zum Gedenken an H.D.

"Eigentlich gibt es nur zwei große Themen, zwei große Fragen im Leben," hat mir einmal in meinen jungen Jahren ein weiser alter Pfarrer gesagt: "Die Liebe – und den Tod."
Der Liebe stellen wir uns gern, auch wenn sie ihre Geheimnisse und ihre dunklen Stellen und Tiefen hat. Das Wort zieht uns an.
Den Tod scheuen wir eher. Wir wollen da nicht ran. Auch für H.D. war der Tod kein Thema, über das sie sprechen wollte. Der Tod scheint uns nur dunkel und abgründig. Das Wort zieht uns nicht an, sondern schreckt uns ab.

Ob man sich mit dem Tod befreunden kann? Ihn anzunehmen, mit ihm vertraut zu werden, das Leben loslassen zu können? Ob das geht? Das eigene Leben – und das der anderen, der geliebten Menschen?

Vielleicht helfen dabei Worte. Worte der Bibel, wie das Wort Jesu: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Und Worte der Dichter. Gottfried Benn etwa sagt: "Wir werden nicht fallen. Wir werden steigen." Also kein Sturz im Tod, kein Fallen wie in ein großes Loch, in dem wir unerkannt verschwinden. Wir werden steigen, nach oben. Und da, so möchte ich hinzufügen, das nächste Geheimnis erleben, nach dem Mysterium des Todes. Das Geheimnis Gottes. Ein ewiges Zuhause. Nicht nur glauben, sondern schauen. So geht unsere Hoffnung, unsere Sehnsucht – dass das nicht das letzte Wort über unser Leben ist: sich begraben zu lassen.

In der Todesanzeige von H.D. wird das Wort des spätromantischen Dichters Joseph von Eichendorff zitiert: "Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus." Nach Haus. In die Heimat. Heimat ist nicht nur das Kindheitsland, als Sehnsuchtsort. Heimat ist nicht ein Zurück, sondern ein Voraus: ein weiter Raum von innerer Wärme, wo ich gesehen, verstanden, geliebt werde. Wo H.D. eine von uns bleibt. Wo es ein Wiedersehen gibt mit den geliebten Menschen – denn zu unserem Ich gehört wesentlich das Du. Wo die Liebe nicht begraben oder eingeäschert ist, sondern aufersteht. Wo man weiter dazugehört, auch wenn man zigtausend Kilometer weit entfernt lebt, wie H.D.s Tochter in Ecuador. Vielleicht kann man diesen Raum des bleibenden ewigen Zuhause Himmel nennen. Ein Raum, der Diesseits und Jenseits umspannt, Zeit und Ewigkeit, Gott und Mensch.

Ein kleiner Text sagt:


Ich gehe meinen Weg
vertrauend darauf,
dass er kein Irrweg,
sondern ein Heimweg ist.
Ich gehe meinen Weg
vertrauend darauf,
dass er mich nicht bloß an ein Ende,
sondern an ein Ziel führt.
Ich gehe meinen Weg
vertrauend darauf,
dass, wenn ich gefragt werde,
wohin ich gehe,
dann antworten kann:
immer nach Haus."


Im Hause D. wurde am Wochenende Totenwache gehalten; H.D. war im Wohnzimmer aufgebahrt. Das erlebt man heute nur noch selten. Ich war sehr berührt davon: die verstorbene Ehefrau und Mutter war noch dabei im Leben der Familie, Leben und Tod koexistierten noch unter einem Dach, der Abschied geschah in Stufen – ehe wir heute H.D. ganz aus unseren Händen geben und sie der größeren Hand eines Anderen anvertrauen. Der Ehemann sagte, nachdem ich die Tote gesegnet hatte und hinausging, noch zu mir: "Wenn ich bei der Trauerfeier etwas über meine Frau sagen müsste – ich käme mit einem Wort aus: Danke!"

Danke für ein langes, erfülltes Leben, für eine Ehe, die 65 Jahre dauerte. Ich möchte über das Leben nicht allzu viel sagen – Sie haben sie ja alle besser gekannt als ich, und die Tochter hat schon Wichtiges mit uns geteilt.

Nur ein paar Bemerkungen aus dem Gespräch mit den Angehörigen. Der zentrale Satz war für mich: "Wenn H. dabei war, dann war es so, als würde der Raum heller – spritziger – lebensfroher!" Lebensfreude – das schien mir das Schlüsselwort. Der Ehemann ergänzte: Das Leben mit ihr war abenteuerlich, niemals langweilig! Angedeutet wurde die Kindheit in Sachsen-Anhalt, das Internat der Herrnhuter, die Arbeit als Erzieherin, Heimleiterin, schließlich als Lehrerin der Mikätzchen-Tradition, großes pädagogisches Einfühlungsvermögen und ein großes Herz für schwierige Kinder. Häufige Umzüge, der beruflichen Karriere ihres Mannes folgend, die Suche nach dem Glück und einem eigenständigen Profil, das Familienleben und der traumatisch wirkende Unfalltod der Tochter K., die Freude am Sport, an Ski (das war sogar eheanbahnend!), und Tennis und Golf, Fallschirmsprünge noch im reifen Alter, Naturliebe und das Hüttenparadies an der Bigge, ein Zug in die Nähe und ein Zug in die Ferne, herunter bis zum Südpol und vieles mehr. 88 Jahre sind eine lange Zeit. Ein roter Faden war wohl: Sie hat neue Möglichkeiten des Lebens – und darin sich selber – entdeckt. Und ich musste an den Grabstein meiner Lieblingsdichterin Marie Luise Kaschnitz in der Nähe von Freiburg denken: Wohl denen, die gelebt, ehe sie starben.

Die letzten Jahre von H.D. waren nicht mehr Aktion, sondern Passion – waren erlitten. Auch das Leiden, die Demenz, ist eine Möglichkeit des Lebens: hilflos zu werden – aber Hilfe zu erfahren. In den letzten Wochen war sie von ganz viel Liebe umgeben: der Ehemann, der ihr bis in den Tod hinein die Hand hielt. Die Tochter, die rechtzeitig aus Ecuador anreiste und der Mutter ins Ohr sang. Die polnische Pflegerin und der ebenfalls professionelle Neffe A., der den anderen Sicherheit gab. Sie alle halfen beim Loslassen. Halfen beim Übergang. Aber den allerletzten Schritt muss jeder allein tun.

H.D. weiß jetzt, was wir noch nicht wissen. Sie ist am Ziel. In bessere Hände kann man nicht fallen. In größerer Liebe kann man nicht sein.