Lazarus zwischen Tod und Leben

Predigt am 29.03.2020

Tod und Leben - das ist der Gegensatz in diesem Evangelium: die Erzählung von Lazarus, der durch den Tod zum Leben kommt.
Tod und Leben - das ist auch der Gegensatz, der jetzt in diesen Wochen auf uns allen schwer lastet.
Die Botschaft des Evangeliums und die Hoffnung in diesem Frühling ist: Dass das Leben siegt und das letzte Wort hat.

Ich habe mir auf zwei Zetteln Stichworte notiert - zum Tod, und zu seinen Freunden. Das ist der eine Zettel. Und der andere: zum Leben.

Stichworte zum Tod: Friedhof, Grab, Verwesung, Auflösung. Vorboten und Begleiter des Todes sind: schwere Krankheit, Coronavirus, Depression, hoffnungslos, große Einsamkeit, würdelos, Gewalt, Hass, Gleichgültigkeit, Zerstörung, Habgier, Desinteresse, nur ans Geld denken, und dann: italienische Verhältnisse. Bilder von alten Menschen, die in den Kliniken sterben. Ganz allein, ohne Medizin und Pflege. Ohne Angehörige.

Stichworte zum Leben: Glaube, Hoffnung, Liebe. Zuversicht. Sinn. Barmherzigkeit. Respekt, Rücksichtnahme. Gespräch. Telefonieren. Coronavirus. Zeit haben. "Freude, schöner Götterfunken", auf der Geige gespielt, vom Balkon herunter. Phantasie und Kreativität für das Gute. Blick auf die anderen. Hingebungsvoller Einsatz von Pflegekräften.

Sie merken: Das Coronavirus kommt auf beiden Zetteln vor. Es ist ein Hinweis auf den Tod, der tausendfach passiert. Und es ist ein Hinweis auf das Leben, das wei-tergeht, ruhiger, nachdenklicher vielleicht, mit stärkerem Blick auf das Wesentliche. Unsere Zeitung setzt ein großes Titelbild vom Frühling auf die Titelseite, von einer Frau, die sich an der Frühlingssonne und dem blauen Himmel erfreut, und setzt dazu die Worte: LEBT DAS LEBEN!
Liebt das Leben, möchte ich ergänzen. Liebt das Leben, das hart ist und schön. Und liebt den Gott, der ein Gott des Lebens, ein "Liebhaber des Lebens" ist, wie die Bibel sagt.

Wir erleben jetzt deutlich mit, wie diese beiden Welten - Tod und Leben - aufeinanderprallen. Diesen Aufprall gab es eigentlich in den letzten Jahrzehnten öfter. Als junger Priester war ich konfrontiert mit der Friedensbewegung. Atombomben waren gegeneinander gerichtet, die ausreichten, um die ganze Welt vielfach zu zerstören. Man setzte auf die Kraft der Abschreckung. Man gewöhnte sich an diese Todesmächte. Friede sah anders aus.

Tod und Leben auch in der Klimafrage. Die jungen Leute fragen in die Runde: Habt ihr euch daran gewöhnt, dass die Katastrophe schon jetzt da ist - für unzählige Menschen? Dass die Todesmächte an der Klimafront auf dem Vormarsch sind, kaum aufzuhalten? Kapiert ihr es erst, wenn's euch selber richtig an den Kragen geht, wenn ihr mit Gasmasken herumlaufen müsst, weil die Luft so schlecht ist?

Tod und Leben auch in der Frage der Flüchtlinge! Die da aus Syrien oder Afghanistan oder Eritrea fliehen, wollen leben, nicht bloß überleben! Nicht bloß vegetieren! Nicht den Todesmächten ausgeliefert sein, Tag für Tag.

Unsere Erde ist ganz offensichtlich ein Schlachtfeld, ein Kampfplatz zwischen Tod und Leben - oft auf Leben und Tod. Die drei Beispiele Atomrüstung - Klima - Flüchtlinge zeigen das an. Jetzt kommt noch im Coronavirus der Bereich der Gesundheit direkt dazu.

Liebt das Leben! Es ist gut, aber reicht wohl nicht, sich an den schönen Seiten des Lebens zu erfreuen, dem Sonnenschein und den ersten Blüten der Natur. Man muss das Leben auch verteidigen, man muss in den Kampf gegen die Todesmächte auch einsteigen. Wie? Auf meinem Zettel stand u.a.: Glaube, Hoffnung, Liebe. Zuversicht, Sinn. Barmherzigkeit, Respekt, Rücksichtnahme. Gespräch, Telefonieren. Blick auf die anderen.
Wir sollten also wohl noch hinzufügen: Widerstand. Jeder muss, wie es ihm möglich ist, Widerstand leisten gegen die Gedanken- und Rücksichtslosigkeit, gegen die Missachtung des Menschen und den Raubbau an der Natur, der aus der Habgier kommt. Denn das sind alles Vorboten und Begleiter des Todes.
Wir sind berufen, Freunde und Liebhaber des Lebens zu sein - im Widerstand gegen die Mächte, die den Tod bewirken.

Ich lese das Evangelium (Joh 11,1-45) als einen Text, der den Widerstand Jesu gegen die Todesmächte zeigt: seinen Widerstand und seinen Sieg.
Ein Freund, Lazarus, ist gestorben, um den Jesus weint und trauert. Freundschaft - das ist eine große Kraft des Lebens! Um einen anderen weinen können, auch. Denn unser Leben heißt: in Beziehungen stehen, heißt: lieben, heißt: Leben-mit-anderen.

In seinen Briefen schreibt der Evangelist Johannes später: Wer nicht liebt (oder geliebt wird!), bleibt im Tode. Umgekehrt heißt das dann: Wer liebt oder geliebt wird, der tritt aus der Sphäre des Todes heraus. Der bleibt nicht in der Grabhöhle. Der gehört in die Sphäre des Lebens.

Ich kann jeden verstehen, der sich mit der realistischen Erzählweise des Evangeliums schwertut. Wie, Lazarus riecht schon? Der Gestank der Verwesung dringt schon aus dem Grab? Und so einer wird ins Leben zurückgerufen?
Heißt das Glauben - dass ich sage: Ja, das steht doch in der Bibel! Das muss ich doch glauben! "Denn bei Gott ist nichts unmöglich!"?

So kann ich mich der Geschichte nicht nähern. Mir ist der Ruf Jesu wichtig: "Lazarus, komm heraus!" Komm heraus - auch du, Mensch des 21. Jahrhunderts - aus der Höhle und lass dir die Binden lösen, die dich an die Todesmächte fesseln: an deine mangelnde Zuversicht und Angst, an dein Gelebt-Werden in der Schmalspur, an das, was alle so denken und tun: diese Mächte "stinken"!
"Lasst ihn weggehen", fährt Jesus fort - weggehen auf seinem eigenen Weg.

Glaube ist für mich: sich aus der Höhle rufen lassen, sich die Binden lösen lassen und gehen auf dem eigenen Weg. Hin zu Gott und den Menschen. Hin zu Ostern, das nicht die Weiterführung des alten Lebens bedeutet (wie bei Lazarus), sondern das Neue, ganz andere. Eine Dimension, die wir kaum ahnen können. Mit der Liebe zum Leben, und im Widerstand und Protest gegen die Mächte des Todes. So wie Jesus es uns gezeigt hat.