Blindheit heilen - Viren auch?

Predigt am 22.03.2020

Das ist die erste "Trockenpredigt" in meinem Leben. Keine Hörer und Hörerinnen in den Bänken, kein Klang der Stimme. Nur Schreiben - und Lesende, vielleicht, hoffentlich. Weil es die erste Pandemie in unserem Leben ist.

Mit meinen über 70 Jahren gehöre ich zur Risikogruppe. Alle Welt sagt zu mir: Pass gut auf dich auf! Aber ich bin merkwürdig unaufgeregt. Noch! Ich kann diesen Tagen sogar etwas abgewinnen: Das Leben ist so entschleunigt und still. Kein Tempo. Kein Druck treibt voran. Bücher stapeln sich: viel Zeit zum Lesen. Auch zum Telefonieren. Pandemien sind nicht nur schrecklich.
Naja! Wäre ich Krankenpfleger oder Patient, Ladenbesitzer, Politiker, Unternehmer, Kurzarbeiter, Gastwirt, gebrechlicher Greis, dann würde ich wohl anders reden. Oder wenn ich den ganzen Tag so nebenbei Kinder beaufsichtigen und beschäftigen müsste, die schulfrei haben. Oder, der ...
Pandemien sind fürchterlich! Sie schaffen Sorgen und Ängste. Und das gilt weltweit.

Und trotzdem, trotz aller Schreckensmeldungen, ist die Stimmung nicht ganz im Keller. Nachbarn sind gesprächiger als sonst, haben Redebedarf. Manche äußern sich mit (Galgen-)Humor. Videos mit Witz landen auf dem Handy. Soweit sind wir noch nicht wie die besonders gebeutelten Italiener, die dennoch von den Balkonen herunter hier und da Belcanto singen: Va pensiero - flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen.
Die Regierung bemüht sich um klare Ansagen, die Kanzlerin spricht wirklich wie eine Landesmutter, sie wirbt entschieden um Abstand und Distanz - und darin um Solidarität aller. Und die AfD und die ganze Nörgelfront hält flächendeckend die Klappe. Gut, dass nicht die Flüchtlinge die Viren eingeschleppt haben.

Die Kirche macht's hingegen wie alle. Bischöfe reden wie Virologen: Händewaschen nicht vergessen! Weihwasser raus! Keine Messen mehr - zum ersten Mal seit Menschengedenken! Abstand halten - das ist Nächstenliebe heute! Der Papst läuft einsam und allein über die römische Via del Corso, und seine Ansprachen per Funk und Internet sind auch Trockenpredigten ohne Leute. Auf dem Petersplatz lässt sich niemand blicken. Leere, wohin man schaut. Leere, die unser gewohntes Leben unterbricht.
Diese Unterbrechung und Übergangsleere hat wohl auch etwas Gutes. Was der liturgischen Fastenzeit kaum gelingt, könnte das Coronavirus schaffen: die Leere, die Stille, die Genügsamkeit zulassen und sehr behutsam entdecken, was sie uns sagt. "Ja, das ist Fastenzeit," schreibt eine Frau aus Soest heute im Leserbrief unserer Zeitung: "Ordnung zu machen, mit mir ins Reine kommen. So könnte man diese Krise auch als Segen für unsere Seelen betrachten."

Unterbrechung, so meinte der vor kurzem verstorbene große Theologe Johann Baptist Metz, ist, was Religion bewirken kann. Religion ist Unterbrechung: Ein Stoppschild im Alltag, in den etablierten Abläufen des Lebens. Ein globaler Sabbat von unbestimmter Länge. Ein Innehalten im Lärm der Zeit.

Wie es scheint, müssen wir dazu "gezwungen" werden - von einem Virus! Freiwillig tut sich da nicht viel in der Abteilung "Muße". Innehalten ist meist etwas für Sonntagsreden und -predigten. Aber Stress, Hektik, im Hamsterrad laufen, dauernde Ablenkung ist - leider - etwas für Alltagstaten.

"Wer in der Fremde lebt, lernt die Heimat schätzen." Die aktuelle hautnahe Fremdheits- und Leere-Erfahrung kann überreichen Stoff zum Nachdenken liefern:
- Dankbarkeit für das so selbstverständlich Scheinende, das uns tagaus, tagein zur Hand und zur Verfügung war - und Dank für die Nähe von Menschen, die unser Leben - jetzt eher aus der Ferne – bereichern.
- Bescheidenheit und Ernüchterung angesichts der Grenze menschlicher Möglichkeiten: Wir kommen bis zum Mond, aber jetzt kaum vor die Tür. Technisch-ökonomisch sind wir die Herren der Welt. Und jetzt legt uns völlig unvorhersehbar ein kleines Virus lahm! Eine Kränkung unseres Selbstbewusstseins! Vielleicht lassen wir einige Illusionen hinter uns und kommen in der Wirklichkeit neu an - in einem Leben, das fragil, verwundbar, zerbrechlich ist (und sein darf!).
- Anderer Umgang mit der Zeit. Unser Machen und Planen köchelt auf kleiner Flamme. Der Aktionismus läuft leer (es sei denn, uns fallen kreative Ideen zu). Wir müssen Langeweile aushalten. Und können innehalten, uns besinnen, in unserem Verhalten ergründen, was uns wirklich wichtig ist (und nach dem Stillstand des Corona-Virus auch bleibt). Wir können "zu uns kommen" und dabei kleine Schritte nötiger "Umkehr" gehen (die ja oft damit zu tun haben, womit wir unsere Zeit füllen).

Das alles ist mögliche "Begleitmusik des Glaubens". In der jetzigen Grenzerfahrung, die uns das Heft aus der Hand nimmt (Hände sind derzeit nicht so gefragt!), kommt es auf unser Herz an - und darin auf unsere Verbindung zu Gott. Um ihn scheint es ziemlich leise geworden in diesen Tagen. Was zum Corona-Virus gesagt wird, ist ziemlich ausschließlich medizinisch-hygienisch-politisch. Religiös: weithin Verstummen, außer Aufrufen zum Gebet. Und da möge jeder wirklich beten, so gut oder so stammelnd wie er kann: in dem Vertrauen, dass wir von Gott etwas erwarten können. Dass wir ihn nicht als "nicht zuständig" empfinden. Dass er mehr und anders ist als eine bloße Idee. Dass wir Menschen ihm nicht wurscht sind, sondern am Herzen liegen. Kerzen mögen brennen, es möge aus vollem Herzen gebetet werden! Nur eines soll niemand sagen: Dass das Corona-Virus eine Strafe Gottes ist für eine verlotterte Menschheit!

Mir selber ist wichtig, dass wir im Beten versuchen, die Welt "mit den Augen Gottes zu sehen". Eine unvollkommene Welt gewiss, eine Welt-im-Werden, mit allen Variationen des Leidens. Aber unser Mut, unser Lächeln, unser gutes Wort (am Telefon!), unser Vertrauen, unser Gebet bringen das "Leuchten der Augen Gottes" in ein kleines Stück unserer Welt und deuten an: Der Karfreitag hat nicht das letzte Wort. Ostern kommt bestimmt! (auch wenn wir es in diesem Jahr nicht in der Kirche feiern können).
Anders gesagt: Gott bewahrt uns nicht vor allem Leid, auch nicht vor Corona-Virus. Aber in allem Leid kann er uns bewahren und tiefster Halt sein. Auch jetzt in der weltweiten Krise.

Nach so langer Vorrede ein ganz kurzer Blick aufs Evangelium (Joh 9). Jesus heilt einen Blinden. Eine sehr lange Geschichte ist das, mit wirklich aktuellen Bezügen: Ausschluss aus der Gemeinschaft und erlittene Distanzerfahrung. Die damals sehr drückende Debatte, ob Krankheit eine Strafe Gottes ist. Und die Hygiene: Wasch dich, sagt Jesus zum Blinden.

Die Pandemie und das, was sie mit uns macht: Das kann man auch als eine Blindenheilung lesen. Wenn wir denn dadurch klarer sehen. Wenn wir uns an der Herausforderung nicht vorbeidrücken. Wenn wir "mit den Augen Gottes sehen", und nicht durch unsere Egobrille. Kurz gesagt: Wenn wir glauben.