In einem Satz: Liebt einander!

Predigt am 06.05.2018

Eine Legende erzählt von einem jungen Prinzen, der König wurde. Weil er das Land gut regieren wollte und die Studien liebte, bat er die Weisen seines Landes: "Tragt alles Wissenswerte über das Leben zusammen."
Die Gelehrten machten sich fleißig an die Arbeit und legten nach 40 Jahren ihre Studien in tausend Bänden vor. Der inzwischen alte König bat daraufhin um eine kurze Zusammenfassung. Aber auch die füllte noch mehr als 500 Seiten. "Nein, das ist viel zu lang für mich," sagte der schon fast erblindete König. "Sagt es ganz kurz. In einem Satz ..." "Gut", sagten die Weisen. "Das Wichtigste steht wohl in diesem Satz: Die Menschen leben, suchen das Glück, leiden und sterben; und was wichtig ist und überlebt, ist die Liebe, die sie empfangen und weiterschenken."

Je älter man wird, desto mehr kommt diese Frage auf: Was bleibt in unseren Erinnerungen? Was bleibt, wenn dieses Leben einmal hinter uns liegt? Was hat sich wirklich gelohnt?
Antwort: Die Liebe, die wir empfangen und geschenkt haben.
Das sagt uns - vielleicht - die eigene Erfahrung. Das sagt uns ganz sicher Jesus. Zum Beispiel heute: Im Evangelium.

Die Situation: Jesus nimmt Abschied von seinen Jüngern. Er spürt: Der Tod ist nah. In den drei gemeinsamen Jahren hat Jesus geradezu verschwenderisch die Liebe verschenkt, hat Taten getan und Worte gesagt, die tief ins Herz gingen. Und nun liegt vor den Jüngern eine dunkle und ungewisse Zukunft. Was bleibt von diesen Worten und Taten Jesu? Was bleibt von seiner Reich-Gottes-Botschaft? Was bleibt von ihrem gemeinsamen Weg?

Davon kann man ausgehen: Eine riesige Last bedrückt die Jünger! Wie sollen sie - schwache, ängstliche Menschen - Jesu Arbeit weiterführen? Man kann sich gut vorstellen, dass den Jüngern die Knie schlottern.

Überlastung und Überforderung bedrohen die Jünger. Manche unter uns kennen das auch, erleben es am eigenen Leib: Da pflegt eine Frau umsichtig den kranken Mann - und merkt, wie ihr selbst die Kräfte schwinden. So viele denkbare Beispiele: Man weiß nicht, wie es weitergehen soll.

In diese Situation drohender Resignation tritt nun Jesus. Und er sagt den Jüngern, sinngemäß: "Wenn ich bald weggehe, dann lasse ich euch in eurer Bedrängnis nicht allein. Ich gehe zu Gott, meinem himmlischen Vater. Ihr könnt mich dann zwar nicht mehr sehen, aber ich bin euch trotzdem nahe. Nie bin ich von euch weiter entfernt als ein Gebet."

Jesus sagt nun seinen Jüngern Dinge, die zum Wunderbarsten in der Bibel gehören. "Ihr seid meine Freunde und Freundinnen. Ihr seid nicht Knechte, die mir fremd sind. Ihr seid drin in meiner Liebe - damit meine Freude in euch ist. Und damit eure Freude vollkommen wird."

Diese Worte sind wirklich Mutmacher! Und sie sind wie ein Testament, ein Vermächtnis. Fast in einem Satz, ein kleiner Spickzettel reicht. Nicht nur für die Jünger. Für alle Zeiten. Für uns.

Der allerkürzeste Satz, der das nochmal komprimiert und verdichtet, steht in der Lesung. Gott ist Liebe. Drei Worte, die unsere Glaubenswelt, ja die ganze Welt zusammenfassen: Gott - ist - Liebe. Solange wir zur Welt gehören, also immer, gehören wir zu dieser Liebe, stammen aus ihr, verdanken ihr unser Leben, und gehen auf sie zu. Schließlich durch das Tor des Todes hindurch.

Schade und schlimm, dass wir auch andere Bilder von Gott in uns tragen, von früher her. Da spricht nicht die Liebe heraus, sondern die Macht, die Kontrolle. Gott als Polizist. Gott als Diktator. Ein Auge ist, was alles sieht, auch was in dunkler Nacht geschieht. Gott als Überwachungskamera. Das hat vielen die "Lust auf Gott" ausgetrieben, diese Verwechslung von Glaube mit Angst und Moral.

Gott ist die Liebe. Nach den harten Bildern der Vergangenheit (Gott als Diktator) darf man die Liebe nun nicht als weiches Bild - "soft" - missverstehen, als eine sentimentale rührselige Soße, die über die Wirklichkeit gekippt wird. Der "liebe Gott", wie wir sagen, der alles mit sich und seiner Welt machen lässt. Wie ein zahnloser Uropa, der im Lehnstuhl sitzt und nur noch vor sich hin mummelt: absolut bedeutungslos.
Nein, so ist die Liebe nicht! Harmlos und irgendwie "nett" - so nicht! Liebe geht anders. Zum Beispiel so: Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.

Liebe geht wie Jesus. Gottes Liebe kann man an ihm ablesen. Die Liebe ist bei ihm nicht eine von seinen Eigenschaften, sie ist keine schöne Zutat, sie geht ihm "durch Mark und Bein", sie macht sein Wesen aus. Reine Liebe, die nicht den eigenen Vorteil sucht, sondern das Wohl des anderen. Reine Liebe: ob er nun Kranke heilt oder mit den Pharisäern streitet oder die Händler aus dem Tempel treibt oder uns harte Wahrheiten zumutet oder sich schließlich ans Kreuz schlagen lässt. Seine Liebe ist leidenschaftlich-passioniert, sie setzt auf Risiko, sie weicht den Konflikten nicht aus. Wer die anderen liebt, oder die Wahrheit, oder die Freiheit, der muss sich dafür einsetzen, muss das Unwahre und Unfrei-Machende zurückweisen. Wer sein Kind liebt, kommt auch nicht ständig "mit der weichen Masche", sondern zeigt, wenn nötig, Grenzen auf. Man sollte sich die Liebe durchaus als kämpferisch vorstellen!

Jesus sagt zum Schluss unseres Textes: "Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt. Und ich habe euch dazu bestimmt, dass ihr Frucht bringt und eure Frucht bleibt." Jesus gebraucht hier mit Bedacht das Wort "Frucht" und nicht das Wort "Werk". "Werke", das sind die Taten, die wir aus uns selbst heraus tun, aus eigener Kraft. "Früchte", das sind die Taten, die in uns aus der Liebe Jesu wachsen. So sind wir dazu eingeladen, unser Leben von der Liebe Gottes durchwirken zu lassen: so, wie sich die Pflanzen von der Sonne bescheinen lassen und ihre Früchte bringen. Dann wird es möglich sein, sich den anfangs erwähnten Weisen anzuschließen. Sie klappen ihre tausend Bände Studien über das Leben zu und sagen ganz einfach und ganz wahr: "Was wichtig ist und überlebt, ist die Liebe, die wir empfangen und weiterschenken."