Blick in die Welt: "Erschütterte Seele"

Predigt am 18.03.2018

"Jetzt ist meine Seele erschüttert - was soll ich sagen?" Jesus findet ergreifende Worte in seiner letzten öffentlichen Rede (Jo 12,27). Er ahnt, dass er sein Leben hingeben, loslassen muss, damit es Frucht bringt für die Menschen. Wie ein Weizenkorn, es wird "begraben", in die Erde gesenkt - und wir leben davon, leben vom Brot.

Jetzt ist meine Seele erschüttert. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht mit dem Elend in der Welt. Gewöhnt man sich daran, fühlt man sich hilflos, verdrängt man das Thema - oder gibt es diese Erschütterung? Dass wir berührt sind, dass es uns auf den Leib rückt, nahe kommt, auch "zu unserer Sache wird"?

Die Aktion MISEREOR jedenfalls versucht immer wieder neu, eine Brücke zu schlagen zwischen uns und den Menschen in Asien und Afrika. Das Motto ist diesmal etwas salopp und provozierend: Heute schon die Welt verändert? So leicht ist das ja nicht mit der Weltveränderung! Da soll man sich nicht mit übernehmen! Aber ein kleines Stückchen Welt kann durchaus in Bewegung kommen - auch durch uns! Was hat die hiesige Gemeindeaktion Dori nicht schon alles bewirkt! Vor ein paar Wochen war eine indische Nonne bei uns zu Gast. Dorfentwicklerin ist sie von Beruf. Sie erzählte sehr anschaulich, wie die Folgen der Trockenheit und des Wassermangels nun von der Dorfbevölkerung diskutiert werden, wie man gemeinsam nach einer Lösung sucht und wie dann gemeinsam große Reservoirs angelegt wurden, um das Wasser längerfristig zu speichern. Die Umwelt- und Klimaprobleme haben auch Indien erreicht und verschärfen noch die üblichen Konflikte, die aus der sozialen Ungerechtigkeit und der Armut der Bauern kommen. Heute schon die Welt verändert? Wir sollten die Frage nicht abtun.

Jetzt ist meine Seele erschüttert - was soll ich sagen? Manchmal scheint angesichts der Größe und Vielzahl der "Baustellen" und der Ohnmacht, die wir spüren, nur das Schweigen zu bleiben. Ja: Was soll ich sagen, was soll ich tun?

Manchmal ist es wichtig, sich wirklich und nachdrücklich den Mächten der Ungerechtigkeit, der Verdrängung und Lüge, der Gleichgültigkeit und der Gewalt zu stellen, nicht einfach darüber hinwegzugehen und zu fragen: Was ist eigentlich los in der Welt? Was ist eigentlich los mit uns Menschen?

Und Jesus Christus? Weiß auch er nicht mehr zu sagen? Seine Antwort ist: "Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt. Jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden. Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen!" (Jo 12,32) Eigenartig! Jesus weiß, dass sich eine Verschwörung hinter seinem Rücken zusammenbraut. Er weiß, wie gefährlich es für ihn wird. Er muss mit seinem Tod rechnen, mit dem Kreuz. Er weiß, dass seine Botschaft vom Reich Gottes dann gescheitert ist und alle spotten: Wo ist denn der Gott, der die Armen aus dem Schmutz hebt und die Trauernden tröstet? Hat er bei Jesus weggeguckt? "Anderen hat er geholfen, aber sich selbst kann er nicht helfen", werden die Zuschauer auf Golgota spotten. Jesus aber spricht davon, dass gerade diese Stunde am Kreuz das Gericht in die Welt trägt und etwas ganz Neues einläutet: Die Liebe zieht alles an sich. Die Liebe Jesu am Kreuz, die so ohnmächtig scheint! Der Gefesselte, der Festgenagelte entlarvt den ungerechten und grausamen Zustand der Welt - und erlöst, befreit, heilt und verändert. Weshalb wir ja Ostern feiern als das Fest mit dem größten Gewicht.

Jetzt ist meine Seele erschüttert - was soll ich sagen? Und was sagen wir? Wir sind getauft, Jesus hat uns im Glauben und in der Taufe an sich gezogen. Wir sind sein Volk, seine "Companeros", seine Gefährten. In Christus gibt es keine Gleichgültigkeit gegenüber dem Nächsten, auch wenn er sechstausend Kilometer entfernt wohnt. Keine Gleichgültigkeit, sondern "compassion", wie man heute gerne sagt, auf Englisch, weil die entsprechenden deutschen Worte so verbraucht und altmodisch geworden sind: Mitleid, Barmherzigkeit. Compassion, das bedeutet leidenschaftliche Aufmerksamkeit für die Leiden der Menschen. Das ist gar nicht so einfach! In uns steckt auch die Abwehr: Ich habe schon genug um die Ohren! Was habe ich denn damit zu tun? Es geht mich nichts an! Im Gleichnis vom "barmherzigen Samariter" heißt es bekanntlich über den Priester und über den Tempeldiener: "Er sah ihn, den Verletzten, und ging vorüber." Dieses Einfach-Vorübergehen ist uns Christen nicht möglich. Leben in der Spur Christi heißt immer auch: Leiden anderer mit tragen und mindern. Mit offenen Augen hinschauen - und nicht verdrängen. Oder noch besser: "Mit den Augen des anderen sehen", einmal in seine Haut schlüpfen, es zumindest versuchen.

Können wir das? Ja, wenn wir die weltweite Kirche aus Brüdern und Schwestern als unsere innere Heimat empfinden. Viele von ihnen leiden. Vor allem an Armut und Verelendung. Wenn ein Teil des Leibes leidet, sagt Paulus über die Kirche, dann leiden alle Glieder des Leibes mit. Auf meinen Reisen in Afrika und Lateinamerika habe ich gespürt, dass die dortigen Christen im Gebet stark verbunden sind und das Wort "Brüder und Schwestern" für sie keine Phrase ist, sondern Wirklichkeit. So können sich die Christen der verschiedenen Welten gegenseitig beschenken. Wir Christen im alten, müden, glaubensfernen Europa brauchen Zeichen der Hoffnung, des Lebensmutes und der Glaubensfreude und entdecken sie bei den Christen Afrikas, Indiens oder Brasiliens. Der Papst stammt ja aus dieser anderen Welt und macht das auch sehr deutlich mit seiner unkomplizierten und Menschen nahen Weise. Und wir in Deutschland können als unsere Gaben anbieten: unser Gebet, unsere materielle Großzügigkeit und Spendenfreude, und unsere Erfahrungen in vielen Bereichen des Wissens. So kann die große Aktion MISEREOR ein Zeichen der Hoffnung sein für die vielen, die auf der Schattenseite der Welt leben müssen. Sie kann eine Stimme sein für mehr Gerechtigkeit, für eine bessere Politik, die die Menschenrechte achtet, für einen anderen, nachhaltigen, schonenden Lebensstil. Mit einer solchen Stimme spricht Gott, spricht Jesus Christus in die Welt von heute hinein.