Wunschzettel

Weihnachtspredigt 2017

In tausend Wünschen
eine endlose Jagd
nach Hülle und Fülle
Sein wie Gott.

Der aber hegt nur einen Wunsch:
den menschlichen Menschen.

Einmal hat Gott sich selbst
diesen Wunsch erfüllt
und wartet seitdem
auf Nachahmung.

Im November haben wir Andreas Knapp zum zweiten Mal als Gast hier in Lüdenscheid gehabt bei unserer Veranstaltung "Grabt Brunnen". Von ihm stammt dieser kleine Text. Ein hochgebildeter Theologe, früher Leiter des Priesterseminars in Freiburg. Alle dachten: Der wird mal Bischof! Der hat's drauf! Doch Knapp war kein Typ für tolle Karrieren. Er gehört einer geistlichen Gemeinschaft an, den "Kleinen Brüdern vom Evangelium", und die wollen lieber "unten", nah bei den Menschen sein. Und das hieß konkret: Andreas verkaufte seine Bücher, gab sein gesichertes Leben dran und ging nach Paris. Dort arbeitete er ein gutes Jahr als Putzmann in einem Altenheim. Lauter Marokkanerinnen schwangen da den Schrubber - mitten unter ihnen Andreas auf der Suche nach seinem wahren Ort. Jahre später verkaufte er Joghurt und Fruchtsäfte auf einem Markt in Bolivien. Nah bei den Menschen! Und nun lebt er schon ziemlich lange in einer Plattenbausiedlung in Leipzig und verdient den Lebensunterhalt durch Halbtagsarbeit - früher in einer Packerei, heute als Seelsorger im Gefängnis. Er kümmert sich sehr um syrische Flüchtlinge, die vor dem IS geflohen sind. In seiner Freizeit schreibt er u.a. Gedichte und Texte, die zum Besten gehören, was Christen in unserem Land veröffentlichen.

Gibt es vielleicht so etwas wie "Weihnachtsmenschen"? Wenn ja, dann ist Andreas einer. Ein Stall- und Krippenmensch von heute. Sozusagen ein Hirte bei den Hirten - draußen, an der Front des Lebens. Nicht im geschützten warmen Raum. Nicht da, wo es noch gemütlich ist und Christen unter sich sind. Eher da, wo fast niemand mehr an Gott glaubt. Wo die Menschen - und in der früheren DDR ist das häufig - das Wort Gott wirklich als Fremdwort betrachten: Gott? Wie, gibt's den noch? Ich dachte, der wär' schon tot.

Ja, mit diesem "unbekannten Gott" lebt Andreas Knapp. Er redet von ihm nur, wenn er gefragt wird, aber er lebt so, dass er - vielleicht - gefragt wird! In seinem Leben blitzt etwas auf von der "Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes", von der die Bibel spricht. Wie verkündet man am besten die göttliche Menschenfreundlichkeit? Nicht durch wohltönende Worte. Nicht durch schönes Reden. Sondern so, dass ganz menschliche Menschenfreundlichkeit hautnah zu spüren ist.

Achten wir noch einmal auf den Text am Anfang; seine Überschrift heißt Wunschzettel. Als Kind habe ich Wunschzettel zu Weihnachten geschrieben. Was stand darauf: Meistens Bücher, oft mit Titel, oder Legobaukästen (stattdessen bekam ich dann Socken oder ein Oberhemd). Und auch, wenn wir heutzutage keine Wunschzettel mehr schreiben, tragen wir doch Wünsche mit uns. Die Wünsche wachsen mit uns. In meiner Familie haben wir vor Jahren beschlossen, uns nichts mehr zu schenken. "Wir haben doch alles", sagte meine Schwester. Aber die großen Wünsche - nach Dingen, die man nicht kaufen kann -, die bleiben. Der Wunsch nach Gesundheit spielt in meinem Alter eine große Rolle. Sodann der Wunsch, dass wir liebevoll, familiär, versöhnlich, freundlich miteinander leben und umgehen. Der Wunsch nach Frieden. Da sieht es ja gar nicht gut aus.

"Ich werde richtig aggressiv, wenn ich jetzt süßlich-romantische Sachen über Weihnachten höre," schrieb mir jemand. "Die Welt ist zurzeit nicht danach, die Welt mit ihren Flüchtlingsströmen, mit den aktuellen Kriegen und Krisen." Ja, die Welt ist wirklich nicht danach. Und dennoch ist es wohl sehr berechtigt, wenn wir jetzt in den Weihnachtstagen Harmonie spüren und schaffen wollen. Das wollen die Gläubigen genauso wie die Menschen, die es ansonsten nicht so "mit dem lieben Gott haben", und die auch gern Weihnachten feiern! Alle gemeinsam suchen wir zumindest ein Echo des Friedens, von dem damals die Engel auf den Feldern Bethlehems sangen. Weihnachten sagt uns: Dieser Friedenswunsch, dieses Bedürfnis nach Harmonie ist keine Augenwischerei für zwei, drei Tage, ist keine Flucht aus der Wirklichkeit. Werdet nicht deprimiert oder mutlos oder gar zynisch angesichts des Zustands in der Welt oder in eurem eigenen Innern. Schaut in die Welt hinein - in dieses große Elend -, und dann schaut auf das Kind in der Krippe, auf dieses große Glück! Es gibt das Gute - trotz allem. Auch das gehört zu unserer Wirklichkeit - es ist die Seite, die hoffen lässt! Es ist vielleicht sogar der alles tragende Grund. Es gibt den Frieden - in Menschengestalt, in Person. Ihr findet ihn in diesem Kind.

Lassen wir unsere selbstgemachten Wunschzettel einmal beiseite. Andreas Knapp schreibt: Gott hegt nur einen Wunsch: den menschlichen Menschen. Einmal hat Gott sich selber diesen Wunsch erfüllt - und wartet seitdem auf Nachahmung. Ja, in dem Krippenkind ist sein Wunsch in Erfüllung gegangen. In Jesus. Er war und ist der "menschliche Mensch" - der Prototyp dafür, das Modell. Das Evangelium erzählt von ihm. Evangelium, das lässt sich übersetzen: Erzählung vom Guten. Erzählung vom guten Menschen, dem Gott-Menschen. Erzählung vom guten, richtigen Leben - vielleicht mitten in ganz viel falschem, unglücklichem Leben.

Gott wartet auf Nachahmung. Vor ein paar Jahren kam der Kino-Film "Merry Christ-mas" heraus, nach einer wahren Begebenheit. Er spielt im Ersten Weltkrieg, vor gut hundert Jahren, in den mörderischen Schützengräben von Ypern in Belgien. Deutsche, britische und französische Soldaten liegen in Stellung und bekämpfen sich. Schon sind Tausende von ihnen gefallen. Und dann kommt Heiligabend 1914, das erste Kriegsweihnachten. Die Soldaten vereinbaren Waffenruhe für die Weihnachtstage. Und irgendwann abends kommen sie aus den Schützengräben, haben Kerzen dabei, einen Weihnachtsbaum auch. Treffen sich in der Mitte. Deutsche, Briten und Franzosen, ansonsten Feinde nach dem Willen ihrer Regierungen, reichen sich die Hand, teilen Tabak und Rotwein miteinander und singen Weihnachtslieder. Diese Szene geht mir nicht aus dem Sinn. Das ist das gute Leben mitten im falschen! Das ist Evangelium - Nachahmung des "menschlichen Menschen" Christus. Mitten im Krieg, der dann leider wieder weitergeht. Ein Aufblitzen von Menschenwürde, von Versöhnung, von einer Zusammengehörigkeit, die tiefer reicht als Feindschaft und nationalistische Gegensätze.

Jesus will keine Fans, sondern Nachfolger. Leute, die tun, was er tat. Gott wartet auf solche Nachahmung - möglichst ohne weitere Schlachten ab dem 27.12.!

Weihnachten heute? Vielleicht nicht so sehr an dem eigenen großen Wunschzettel mit den hundert Einzelwünschen weiterschreiben, sondern Gottes Wunschzettel an uns Menschen neu lesen, in der Bibel. "Mach's wie Gott. Werde Mensch." In unserer Welt wird dann ein ganz anderer Typ Mensch sichtbar: gewaltlos und hoffnungsvoll, großzügig und aufmerksam, vertrauend und frei. Einer, in dem Gottes Wunschzettel in Erfüllung geht.