Weinberg - in Lüdenscheid und anderswo

Predigt am 08.10.2017

Als ich vor vielen Jahren meinen Dienst in Lüdenscheid begann, schrieb mir ein Kollege: "Ich wünsche Dir im Weinberg, Lage Lüdenscheid, Gottes Segen!" Seit der Zeit sind für mich das alte biblische Bild vom Weinberg und die jetzige Gemeinde - "die Lag" - eng verknüpft: Welcher Wein wächst im Regen und Nebel der Sauerländer Hanglage? Wie mag der wohl schmecken? Bekömmlich, oder ein saures Gesöff?

Über den Weinberg kann man Freuden- und Klagelieder singen. In der Lesung fängt der Prophet Jesaja in freudigem, jubelndem Ton an: "Ich will ein Lied singen von meinem geliebten Freund, ein Lied vom Weinberg meines Liebsten ..." Der Weinberg: das ist ein schönes Bild für das Volk Israel, später dann für Kirche und Gemeinde. Der Weinberg Gottes! Der Besitzer, Gott selber, freut sich auf süße Trauben. Auslese! Stattdessen kommen nur saure Beeren, die keiner mag. Die Früchte sind also schlecht, und so wird aus dem Freudenlied des Jesaja eine Klage: Der Weinberg taugt nichts, er wird aufgegeben, wird zum Ödland, ist bald von Disteln und Dornen und Unkraut überwuchert. Saure Beeren verderben nur den Magen, der Besitzer ist enttäuscht und zornig. Jesaja meint: Gott ist enttäuscht von seinem Volk. Es hält sich nicht an den Bund und an die Zehn Gebote. Die Not der Armen schreit zum Himmel. Die Reichen von damals, die Großgrundbesitzer, die Leute am Königshof und im Militär, haben sich breitgemacht und plündern die kleinen Bauern aus, die sich bei ihnen verschulden und nur noch die Rechte von Sklaven haben. So hat sich Gott das nicht gedacht mit seinem Volk! Kein Wunder, dass ein so korrumpiertes Volk keine Kraft mehr hat. Bald wird es von den mächtigen Nachbarn, den Babyloniern, in die Verbannung gezwungen und muss jahrzehntelang fern der alten Heimat leben, während wirklich die Disteln und Dornen über den Ruinen der Stadt Jerusalem wachsen.

Im Evangelium greift Jesus dieses alte Bild des Jesaja vom Weinberg auf. Er wird noch deutlicher, noch viel dramatischer: Der Gutsbesitzer legt alles Nötige an und "reist dann in ein anderes Land". Er legt sein Werk in andere Hände, von denen er in großem Zutrauen eine gute "treuhänderische" Verwaltung erwartet. Aber die Winzer verderben alles: die Führenden, Mächtigen und Reichen im Volk an erster Stelle. Die Hörer Jesu wissen, dass es in ihrem Land seit jenen alten Zeiten des Jesaja kaum besser geworden ist, dass die Armen weiter "ausgequetscht" werden - wie die Trauben in der Kelter. Wer fragt noch wirklich nach dem Willen Gottes? Wer an diesen Willen erinnert (im Gleichnis sind es die "Knechte" - die Propheten - und dann schließlich der Sohn selber), der wird totgeschwiegen, auch ausgelacht, verprügelt und schließlich umgebracht - wie Jesus selber. Die Gewalt läuft aus dem Ruder. Das geht so bis heute. Darum wäre es sehr kurz gegriffen, unter dem "Volk" nur die Juden zu verstehen, die ihre große Chance verpasst haben und nun den Weinberg an ein anderes Volk, das des Neuen Bundes, die Christen, die Kirche, abtreten müssen. Für judenfeindliche, antisemitische Vorurteile ist das Gleichnis Jesu nicht geeignet. Auch wir Christen haben keine Weltordnung hervorgebracht, über die der göttliche Gutsherr Freudenlieder singen könnte. Die Armen werden weltweit immer noch ausgeplündert und ausgequetscht wie die Trauben oder wie eine Zitrone. Propheten, die wachen Kritiker, werden eingesperrt, mundtot oder ganz tot gemacht. Süße Früchte oder saure Beeren? Die Frage stellt sich immer noch. Dornen und Disteln im Weinberg Jesu Christi, verlassenes, verstepptes Ödland, wer könnte es übersehen?

Im Weinberg, in dem ich arbeite und wir alle wohnen - "Lage Lüdenscheid" - muss und möchte ich mich der Frage des Gutsherrn stellen: Was habt ihr aus meinem Hab und Gut gemacht? Wie seid ihr umgegangen mit dem, was ich euch anvertraut habe? Ist euch noch bewusst, dass der Weinberg mir gehört? Oder fühlt ihr euch schon als die Erben, als die Besitzer? Wo ihr doch nur Pächter seid. Pächter, denen alles nur geliehen ist - die Erde, das Land, das Leben -, und die eine Antwort darüber geben müssen, wie sie mit dieser Pacht, mit diesem uns zugefallenen Stück Leben, umgegangen sind.

Es gibt in den Gemeinden - im Unterschied zu den Winzergenossenschaften - keine Prüf- und Kontrollstelle für die Güte und Qualität des Weines. Ist der Wein genießbar, zu süß, zu sauer? Wird einem schlecht davon, oder kann man ihn wirklich genießen? Möge jeder sich selber prüfen und befragen, ob sein Beitrag an Wein, ins große Fass gegeben, die "Lage Lüdenscheid" bekömmlicher macht und den himmlischen Gutsherrn nicht enttäuscht.

Zum Schluss noch eine kleine Geschichte aus China. Da wird von einer Hochzeit erzählt. Die Brautleute waren arm, wollten aber mit vielen fröhlich feiern. Damit das ging, baten sie die eingeladenen Gäste, eine Flasche Wein mitzubringen. Am Eingang zum Festsaal würde ein großes Fass stehen, in das dann jeder seinen Wein gießen könnte. Und so sollte jeder von der Gabe des anderen trinken und feiern können. Als nun das Fest begann, liefen die Kellner zu dem großen Fass und schöpften daraus. Doch wie groß war das Erschrecken aller, als sie merkten, dass im Fass nur Wasser war! Jeder hatte gedacht: Die eine Flasche Wasser, die ich hineingieße, die wird doch niemand herausschmecken. Jeder von ihnen hatte gedacht: Heute will ich mal auf Kosten anderer feiern! Und so fand das Fest nicht statt.